Um zu verstehen, wie es zum Massenmord an europäischen Jüd*innen während des Zweiten Weltkrieges kommen konnte, ist das Wissen um die Täter*innen nicht genug. Erst das Verstehen der Rolle sogenannter „Bystanders“ – sinngemäß Umstehende oder auch Beobachter*innen – ergibt ein vollständiges Bild. Historiker*innen der Universität Bielefeld und der Jagiellonen-Universität Krakau wollen die Bedeutung der Menschen, die den gesellschaftlichen Prozess mit ermöglicht haben, anhand von Tagebüchern erforschen. Das jetzt gestartete Balzan Bystanding Project unter Leitung von Professorin Dr. Christina Morina macht dies möglich. Die neue Arbeitsgruppe wird fünf Jahre lang die Rolle von Bystandern im Holocaust erforschen. Gefördert wird das Forschungsvorhaben mit 350.000 Euro durch den 2021 an den Historiker Professor Dr. Saul Friedländer verliehenen Balzan Preis.
Bystanders – damit ist in diesem Fall die nicht-jüdische Mehrheitsbevölkerung in Deutschland und den besetzten Ländern Europas gemeint. Bystanding drückt sich auf unterschiedliche Weise aus: in Duldung oder Beteiligung an verunglimpfendem Gerede, in Ausgrenzung und Belästigung im Alltag bis hin zur Beobachtung von Deportation, Folter und Mord an anderen Menschen. Bystanding können aber auch Worte oder Gesten der Empathie und Solidarität sein: „Es gibt seit Jahren die Tendenz, Bystander eher den Tätern als den Opfern zuzurechnen. Wir wollen aber in einem breiteren Spektrum in den Blick nehmen, auf welche Weise vermeintlich nichtbetroffene oder – involvierte Zeitgenoss*innen, die Verfolgung befördert oder sie auch gehemmt haben“, sagt Morina. Ziel sei es, sich von der Mitschuld-Diskussion zu entfernen, die aktuell den Diskurs bestimme und stärker nach den jeweiligen Erfahrungskontexten, Handlungszwängen und interpersonalen Dynamiken zu fragen.
Team wertet hunderte Tagebücher aus acht Ländern aus
Um zu erfahren, wie die nicht-jüdische Mehrheitsbevölkerung die Zeit der Anbahnung des Holocausts wahrgenommen und in ihr gehandelt hat, will das Forschungsteam Tagebücher aus Deutschland, Österreich, Polen, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, Großbritannien und den USA analysieren. 100 Tagebücher aus jedem Land – jeweils 50 von jüdischen und 50 von nicht-jüdischen Personen – sollen dabei helfen. Das Sammeln allein sei allerdings schon eine Herausforderung, wie Morina erklärt: „Die Niederlande etwa haben sehr viele überlieferte Tagebücher, in Polen wird es allein schwierig, nur 20 zu finden.“ Viele seien vernichtet worden.
Die Tagebücher der nicht-jüdischen Verfasser*innen werten die Wissenschaftler*innen daraufhin aus, wer diese Personen waren, wie sie über die Verfolgung der Jüd*innen schrieben und sich dafür womöglich auch verantwortlich gefühlt oder auch gerechtfertigt haben. „Diese Dokumente wurden bisher noch nicht systematisch untersucht, weil man zunächst dachte, darin komme die Verfolgung der Jüd*innen nicht vor“, sagt Morina. Aus den Zeilen der jüdischen Tagebücher wiederum will das Team herausarbeiten, wie jüdische Opfer über nicht-jüdische Personen schrieben. Dabei gehe es explizit nicht um die Täter*innen, sondern Nachbar*innen, Kolleg*innen und Mitbürger*innen und wie sie auf die Politik des Staates beziehungsweise der Besatzungsmacht reagiert haben.
Die Verfolgung in Worte fassen
Nicht zuletzt nimmt das Forschungsvorhaben die Sprache in den Blick, die zu jener Zeit für die Ausgrenzung und die Verfolgung von Jüd*innen gewählt wurde. „Wie wurde während des Holocaust über den Holocaust gesprochen?“, will Historikerin Morina wissen. „Heute sprechen wir in festen Begriffen und Narrativen über das damalige Geschehen. Wir wollen herausfinden, welche Sprache jüdische und, was viel weniger untersucht ist, welche Sprache nicht-jüdische Menschen damals für die Verfolgung fanden, wie sie sich also semantisch niederschlug.“ Durch die Analyse sollen Muster, Rituale, Routinen und Narrative erkennbar werden.
Tagebücher stehen auch im Zentrum der Forschung des Historikers und Zeitzeugen Professor Dr. Saul Friedländer. Der israelisch-amerikanische Historiker wurde im vergangenen Jahr mit dem Internationalen Balzan Preis für sein Lebenswerk im Forschungsfeld Holocaust and Genocide Studies (Holocaust und Genozidstudien) ausgezeichnet. Er hat die Einrichtung des Balzan Bystanding Project an der Universität Bielefeld finanziell mitermöglicht, denn die Hälfte des Preisgeldes muss laut Statut in ein Forschungsvorhaben investiert werden, um das Forschungsfeld, in dem der Preis vergeben wurde, voranzubringen. Professor Dr. Norbert Frei, Historiker an der Universität Jena, Vertrauter Friedländers und enger Kollege Morinas, hat vermittelt. „Ich habe Saul Friedländer daraufhin einen sehr persönlichen Brief geschrieben und ihm mein Vorhaben und einige diesbezügliche Vorarbeiten vorgestellt. Er hat sofort zugesagt“, erinnert sich Morina.
Fünf Jahre lang werden Professorin Dr. Roma Sendyka, Dr. Anna Strommenger, Dr. Teresa Malice, Laura Niewöhner und Moritz Y. Meier unter Leitung von Morina und mit Frei als Berater zum „Bystanding in the Holocaust“ in zeitgenössischen Tagebüchern forschen. Ziel der Historiker*innen ist es, den Massenmord an den europäischen Jüd*innen aus einer gesamtgesellschaftlichen und europäisch vergleichenden Perspektive zu betrachten. „Natürlich ohne dabei die zentrale Rolle Deutschlands zu relativieren“, sagt Morina. Doch Genozid habe immer auch eine spezifische gesellschaftliche Voraussetzung und Einbettung. „Auch die kleinsten Gesten, die man tut oder unterlässt, können zur Diskriminierung und Ausgrenzung anderer Menschen beitragen.“