Ein neues interdisziplinäres Forschungsprojekt soll den Effekt der Versorgung von Frühgeborenen mit Muttermilch möglichst genau messen – in Zusammenarbeit mit zwölf teilnehmenden Krankenhäusern. Langfristiges Ziel des Projekts mit dem Namen NEO-Milk: Zugang zu Muttermilch ab dem ersten Lebenstag für jedes Frühgeborene unter 1.500 Gramm. Die Forschungsgruppe von Professorin Dr. Friederike Eyssel am Institut CITEC der Universität Bielefeld ist an dem Projekt beteiligt. Geleitet wird NEO-Milk vom Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) der Universität zu Köln. Das Projekt startet zum 1. Januar 2021. Es wird für vier Jahre mit insgesamt rund 4,7 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds der Bundesregierung gefördert. Neben einer Vielzahl an wissenschaftlichen und klinischen Kooperationspartnern sind auch Krankenkassen an dem Projekt beteiligt.
„Besonders für frühgeborene Kinder ist Muttermilch wichtig – auch, weil sie dazu beiträgt, gefährliche Erkrankungen zu verhindern“, sagt Professorin Dr. Friederike Eyssel, Forscherin am Institut CITEC und der Abteilung für Psychologie. Sie leitet die Forschungsgruppe Angewandte Sozialpsychologie und Geschlechterforschung. „Trotz Stillbetreuung im Krankenhaus und mit Beratungsangeboten führen unterschiedliche Faktoren dazu, dass manche Mütter nicht oder nur kurze Zeit stillen. Deswegen erforschen wir in dem neuen Projekt zum Beispiel, was dazu führt, dass Mütter stillen oder eigene Muttermilch für andere Kinder zur Verfügung zu stellen.“
Dafür soll unter anderem ermittelt werden, welche psychologischen Faktoren voraussagen, ob Mütter ihre Neugeborenen stillen oder darauf verzichten. „Ob eine Mutter stillt, hängt zum Beispiel damit zusammen, wie sehr sie sich an als typisch wahrgenommenen Geschlechtsrollen orientiert“, sagt Dr. Ricarda Wullenkord, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Eyssels Forschungsgruppe. Die Sozialpsychologin wird in dem neuen Projekt erforschen, welche persönlichen Einstellungen die Stillbereitschaft und das Stillverhalten voraussagen können. Sie arbeitet zudem an einem Stillförderkonzept mit, das in den teilnehmenden Krankenhäusern erprobt und evaluiert werden soll.
„Außerdem entwickeln wir im Projekt eine App“, sagt Friederike Eyssel. „Die App soll Mütter von Frühgeborenen künftig über das Stillen informieren und ihnen helfen, mühelos zu erfassen, wie oft sie ihr Kind stillen und wie die Milchproduktion zu- oder abnimmt. Für die App berücksichtigen wir auch sozialpsychologische Aspekte, indem wir die Nutzerinnen zum Beispiel fördern, die eigene Selbstwirksamkeit wahrzunehmen.“
In dem Projekt Neo-Milk werden Wissenschaftler*innen unter anderem 2.700 Mütter von Frühgeborenen auf neonatologischen Intensivstationen (Frühgeborenenstationen) nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen befragen. Das Stillförderungskonzept soll im Anschluss entwickelt werden, ebenso die App für Mütter von Frühgeborenen. Das Projekt sieht ebenfalls Schulungen der Pflegekräfte und Ärzt*innen vor.
Nach den Vorarbeiten werden ab 2022 das Stillförderungskonzept und die Muttermilchbanken an zwölf beteiligten Perinatalzentren starten. Solche Zentren sind für die Versorgung von Früh- und Neugeborenen zuständig. Zwei Jahre lang wird der Einsatz des Versorgungskonzeptes wissenschaftlich beobachtet und begleitend evaluiert. Die Forscher*innen erfassen Daten über den Anteil der Kinder, die bei der Entlassung mit Muttermilch ernährt werden. Sie analysieren das Spende- und Stillverhalten der Mütter. Auch untersuchen sie, wie Muttermilchbanken genutzt werden.
In Deutschland kommen jedes Jahr circa. 10.500 Frühgeborene mit weniger als 1.500 Gramm Geburtsgewicht zur Welt. Sie sind in besonderem Maße von Komplikationen betroffen, die zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder zum Tod führen können. Stillförderung ist ein Schlüsselelement, um Frühgeborene bestmöglich zu versorgen. Muttermilch ist gerade für frühgeborene Kinder essenziell, zum einen für die Verhinderung vital bedrohlicher Infektionen wie beispielsweise die nekrotisierende Enterokolitis (NEC), eine häufig akute Erkrankung des Magen-Darm-Traktes. Zum anderen ist sie für die Prägung des Immunsystems und die kognitive Entwicklung entscheidend.
Muttermilchbanken existieren weltweit seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Während die DDR an dem Konzept der Humanmilchbanken festhielt, wurden sie in Westdeutschland im Laufe der Jahrzehnte abgeschafft. Neben vielen Faktoren war eine Ursache dafür das Aufkommen der industriell gefertigten Formula-Nahrung. Auch wenn sich wieder ein Trend in Richtung der Muttermilch abzeichnet: Aktuell findet in Deutschland weder eine strukturierte Stillförderung statt, noch ist für Frühgeborene der Zugang zu Muttermilch in der Breite gewährleistet. So sind momentan etwa 30 Muttermilchbanken in Betrieb, es existieren jedoch alleine mehr als 200 Perinatalzentren (Level 1), in denen Früh- und Neugeborene versorgt werden.
Nach Projektende bewertet die Förderinstitution die Ergebnisse und entscheidet auf Basis der erarbeiteten rechtlichen und strukturellen Grundlagen über die bundesweite Etablierung von Muttermilchbanken.