„Als Folge der Coronakrise spitzt sich die Lebenssituation von vor allem Kindern und Jugendlichen zu, die ohnehin schon psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind.“ Das sagt der Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Ullrich Bauer, Leiter des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) an der Universität Bielefeld. „Weitgehend isoliert in ihrem Zuhause erfahren sie noch mehr Stress als bisher. Kindertagesstätten und Schulen als wohltuende Erfahrungsräume fallen momentan weg. Das kann zum Beispiel zu psychischen Erkrankungen der jungen Menschen führen“, sagt Bauer. Kinder und Jugendliche müssten bei den aktuellen Maßnahmen weiterhin als besonders schutzbedürftig behandelt werden. Sonst würden hohe soziale Kosten in der nachwachsenden Generation drohen. Wie Ullrich Bauer die aktuelle Lage sieht:
„Ob Kontaktsperren oder die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen: Bei den Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie wird das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in großem Ausmaß vernachlässigt. Obwohl sie eigentlich als schutzbedürftige Gruppe gelten, werden sie momentan vornehmlich als Risikofaktor für die Infektion älterer Menschen angesehen. Doch die Veränderungen und Irritationen infolge der Pandemie sind für die jungen Menschen genauso einschneidend und prägend wie für den Rest der Gesellschaft. Die psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen sind unter bestimmten Bedingungen sogar intensiver. Sie hängen vor allem von der Lebenslage ab.
Kritisch ist die Situation für sozial verwundbare Kinder und Jugendliche. Sie sind vulnerabel, weil sie wegen widriger Lebensumstände tendenziell eher und häufiger psychische Störungen, Krankheiten oder Verhaltensprobleme entwickeln können. Oft mangelt es ihnen an einem sozialen Netzwerk, das sie unterstützen kann. Etwa, wenn sie mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammenleben.
Wie Studien zeigen, leben sozial vulnerable Kinder und Jugendliche häufig in prekären Verhältnissen. Dort sind die Wohnverhältnisse meist beengt, ihnen stehen wenige Ausweichräume zur Verfügung. Durch die Corona-Schutzmaßnahmen werden Kinder und Jugendlichen nun in ihrem Zuhause weitgehend isoliert. Denn nicht nur Schulen und Kitas als Betreuungseinrichtungen sind über lange Zeit geschlossen. Auch Angebote der Kinder- und Jugendhilfe fallen häufig weg. Diese wohltuenden und ausgleichenden Erfahrungsräume fehlen jetzt. Benachteiligte Kinder und Jugendliche werden also aktuell auf schwierige Bedingungen in ihren Familien zurückgeworfen.
Die Familien sind stärker belastet als zuvor: Nicht nur müssen die Kinder den ganzen Tag über betreut werden. Eltern kommt in diesen Tagen zusätzliche Verantwortung zu, etwa wenn sie ihre Kinder bei der Bearbeitung von Lernmaterialien der Schulen unterstützen sollen. Das belastet vor allem Eltern aus „bildungsfernen“ Schichten, worauf Schulen und Schulsteuerung vollkommen unzureichend reagieren.
Wie die Forschung zeigt, profitieren sozial vulnerable Kinder weniger von schulischen Lernangeboten. Durch die ungewollte Unterbrechung des Schulunterrichts ist damit zu rechnen, dass sich ihr Abstand zu dem vorher schon leistungsstarken Schüler*innen weiter vergrößert. Damit wird ihr Schulstress zunehmen. Psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche werden durch eingeschränkte therapeutische Behandlungsmöglichkeiten zusätzlich belastet. Das erhöht das Risiko für eine Verschlimmerung und für Rückfälle. Aber auch als Angehörige von psychisch erkrankten Eltern steigt jetzt ihre Vulnerabilität.
Die bedeutsame Funktion von Kitas, Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe als Früherkennungssystem ist unterbrochen, sodass Bedarfe für die Unterstützung einzelner Kinder aktuell nicht erkannt werden können. Das ist riskant, weil die Kinder und Jugendlichen gerade durch die Folgen der Pandemie neuen Belastungen ausgesetzt sind.
Für die Wirtschaft zeigt sich, dass die Folgen der Krise nur durch gezielte politische Steuerung abgemildert werden können. Auch für die Kinder sind politische Anstrengungen nötig, damit sie die Krise ohne dauerhafte Belastungen überstehen. Dazu gehören Investitionen in Bildung, soziale Arbeit und in Kinder- und Jugendhilfe. Sonst werden durch die Pandemie erhebliche soziale Kosten in der nachwachsenden Generation junger Menschen entstehen: ein Anstieg bei schulischen Misserfolgen, eine steigende Zahl psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sowie mehr junge Menschen mit abweichendem Verhalten, was auch Kriminalität einschließen kann.“
Professor Dr. Ullrich Bauer leitet seit 2012 das Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI). Er ist Professor für Sozialisationsforschung und Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft. In einer aktuellen Stellungnahme fordert er gemeinsam mit einem interdisziplinären Team des ZPI, im Umgang mit der Corona-Pandemie sozial verwundbare Kinder und Jugendliche stärker in den Blick zu nehmen.
Aufgezeichnet von Jörg Heeren