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„Geflüchtete in den Lagern sind dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert“


Autor*in: Kayvan Bozorgmehr

Die Flüchtlinge in den Aufnahmezentren auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros müssen evakuiert werden, um nicht nur die Gesundheit einzelner, sondern der gesamten Bevölkerung zu schützen. Das sagt der Epidemiologe Professor Dr. med. Kayvan Bozorgmehr. 59 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern in Deutschland und Luxemburg unterzubringen, sei zu wenig. Bozorgmehr warnt: In den Lagern sei die Zahl der Risikogruppen für eine Sars-CoV-2-Infektion wahrscheinlich höher als gemeinhin angenommen. Um das Gesundheitsrisiko auch für die griechische Bevölkerung zu minimieren, müssen laut dem Forscher Hotspots vermieden werden. Wie Kayvan Bozorgmehr die aktuelle Lage sieht:

„Schutzmaßnahmen gegen das Coranavirus sind für die Menschen in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln de facto nicht möglich. Die Kapazitäten der Lager sind um das Siebenfache überschritten. Allein in Moria auf Lesbos sind mehr als 20.000 Menschen ohne angemessenen Zugang zu geschütztem Wohnraum, in dem sie sich selbst isolieren könnten. Die Versorgung mit Wasser, Sanitäranlagen und Elektrizität ist ungenügend. Bereits ohne eine Pandemie sind die Lager ein Nährboden für Ausbrüche von Infektionserkrankungen wie Masern und Hepatitis. Aber gegen diese Krankheiten kann geimpft werden. Die Geflüchteten in den Lagern sind dem Coronavirus hingegen schutzlos ausgeliefert.

Kayvan Bozorgmehr
„Eine humanere dezentrale Unterbringung von Geflüchteten ist auch aus Gründen des Infektionsschutzes vorteilhaft“, sagt der Epidemiologe Prof. Dr. med. Kayvan Bozorgmehr. Foto: Universität Bielefeld

Hygiene- und Schutzmaßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen, Abstand zu anderen und Selbstisolation bei Erkältungszeichen lassen sich in den Lagern nicht umsetzen. Die griechische Regierung hat bisher damit reagiert, die Lager abzuschotten und den Zugang von Hilfsorganisationen zu beschränken. Dadurch lässt sich aber eine Ausbreitung des Virus nicht verhindern. Im Gegenteil: Wenn Personen sich auf engem Raum aufhalten, steigt das Infektionsrisiko. Das zeigen zum Beispiel wissenschaftliche Analysen der Quarantäne von Kreuzfahrtschiffen. Sind die Passagiere auf den Schiffen geblieben, war die Zahl der Corona-Infizierten höher als bei einer frühen Evakuierung– und das, obwohl es ausreichend Räume und Sanitäranlagen gab, sodass Erkrankte in Selbstisolation gehen konnten.

Epidemiologisch sinnvoll wäre eine schnelle Evakuierung der Lager kombiniert mit einem europäischen Verteilungsplan. Praktisch ist das umsetzbar, indem Geflüchtete in den Lagern ein symptomatisches Screening durchlaufen. Personen mit Erkrankungszeichen würden in den baulich soliden Teilen der Lager oder aufzustellenden Containern isoliert werden. Im Anschluss könnten sie auf Flughäfen der Inseln auf die 27 Länder der EU verteilt werden – begleitetet von Fachkräften und unter Berücksichtigung von Eigen- und Fremdschutz. In den Aufnahmeländern könnten die Geflüchteten systematisch auf eine Sars-CoV-2-Infektion getestet werden, und je nach Befund isoliert oder in dezentralen Einrichtungen untergebracht werden, die Maßnahmen des Selbstschutzes ermöglichen. Die Bevölkerungsgröße der EU-Länder zugrunde gelegt, müssten die meisten Länder weniger als 1000 Geflüchtete aufnehmen. Zusätzlich könnten Geflüchtete auf das griechische Festland verteilt werden. Damit würde die EU zu zwei öffentlichen Gütern gleichzeitig beitragen: Infektionsschutz und internationaler Schutz. Die bisherigen Rückholaktionen der EU und der deutschen Regierung von mehr als 150.000 Tourist*innen seit Beginn der Pandemie zeigen, dass die Verteilung der Flüchtlinge technisch möglich ist.

Mit Blick auf die öffentliche Gesundheit sind die Zustände in den Lagern in vielerlei Hinsicht problematisch. In den Lagern leben viele infektionsgefährdete Menschen: Kinder, teils mit chronischen Erkrankungen, Ältere und Schwangere. Aber auch die jüngeren Erwachsenen können zum Beispiel durch fehlende Nahrungsmittelsicherheit eine abgeschwächte Immunität aufweisen. Die Zahl der Risikogruppen für eine Infektion mit dem Coronavirus ist also wahrscheinlich deutlich höher, als die Altersverteilung in den Lagern ahnen lässt. Werden die Lager nicht evakuiert, kann es zur unkontrollierten Ausbreitung des Virus kommen, und davon bleiben weder die Inselbewohner*innen noch das griechische Festland oder die EU insgesamt verschont. Eine Überbelastung des griechischen Gesundheitssystems wäre schnell erreicht, denn auf den ganzen Inseln gibt es derzeit nach lokalen Angaben für alle Inselbewohner*innen einschließlich der griechischen Bevölkerung insgesamt sechs Intensivbetten.

In Zeiten der Corona-Pandemie zeigt sich deutlich: Eine humanere dezentrale Unterbringung von Geflüchteten, die Privatsphäre, Hygiene und Selbstbestimmung ermöglicht, ist auch aus Gründen des Infektionsschutzes vorteilhaft. Geflüchtete menschenwürdig unterzubringen, kostet Geld. Das Recht auf Menschenwürde nicht zu wahren, kann eine Gesellschaft noch teurer zu stehen kommen.“

Professor Dr. med. Kayvan Bozorgmehr leitet die Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Er leitet außerdem eine Forschungsgruppe am Universitätsklinikum Heidelberg. In einem offenen Brief an die Europäische Kommission plädiert er mit Wissenschaftler*innen der London School of Hygiene and Tropical Medicine und mehr als 3000 Unterstützer*innen aus der Public-Health-Community für die Evakuierung der Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln.

Aufgezeichnet von Jörg Heeren