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Sicht auf eine Ebene in der Laborschule, verzerrte Aufnahme mit Fisheye-Objektiv

„Wir bleiben eine Provokation im Schulsystem“


Autor*in: Silke Tornede

Der Auftrag gilt heute wie vor 50 Jahren. An der Bielefelder Laborschule und am Oberstufen-Kolleg wird immer wieder neu ausprobiert und erforscht, wie Unterricht und gutes Lernen gelingen können. Die beiden Versuchsschulen des Landes Nordrhein-Westfalen haben die Schullandschaft mit ihrer Arbeit beeinflusst und verändert – und doch werden längst nicht alle Erkenntnisse so konsequent in die Praxis übertragen, wie es sich die Beteiligten manchmal wünschen.

Englisch in der Grundschule, Ganztagsunterricht, fächerübergreifendes Arbeiten und Lernen in Kleingruppen statt Frontalunterricht – vieles, was an Regelschulen heute selbstverständlich ist, wurde an der Laborschule und am Oberstufen-Kolleg erdacht und erprobt.

Professorin Dr. Annette Textor ist dennoch zurückhaltend, wenn es darum geht, einzelne pädagogische Innovationen allein den Bielefelder Versuchsschulen zuzuschreiben. „Es gibt immer viele Quellen und Inspirationen für Schulen“, sagt die Leiterin der Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule. Das ist quasi die Forschungsabteilung der Schule. Sie ist an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität angesiedelt und untersucht zum Beispiel, wie Kinder noch stärker vom jahrgangsübergreifenden Lernen profitieren oder wie Ansätze zur Demokratieerziehung weiterentwickelt werden können.

„Das sind alles Dinge, von denen wir glauben, dass wir viel davon ins Schulsystem transferiert haben“, sagt Annette Textor. „Aber wir sind nicht die einzigen, die daran arbeiten. Und es ist schwer nachzuweisen, was konkret auf uns zurückzuführen ist.“

Portraitfoto von Professorin Dr. Annette Textor; Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt empirische Schulforschung, Fakultät für Erziehungswissenschaft / AG 4 - Schulentwicklung und Schulforschung
Prof’in Dr. Annette Textor plädiert für einen breiten, weniger normierenden Leistungsbegriff, der es Kindern ermöglicht, ihr individuelles Potenzial auszuschöpfen.

Inklusion fördern, Demokratie leben

Viel wichtiger sei es ohnehin, Wissen weiterzugeben und pädagogisch sinnvolle Ansätze zu verbreiten – durch Fortbildungen für Lehrer*innen, Schulhospitationen, Netzwerkarbeit, erklärt Rainer Devantié, der die Laborschule seit 2014 leitet. Er findet die Umsetzung der Inklusion an der Laborschule besonders gelungen und vorbildlich für andere Schulen. Sie wird immer im größeren Zusammenhang mit dem gelebten Demokratiekonzept gesehen, also als Versuch der gleichberechtigten Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum.

Portraitfoto von Rainer Devantié, Schulleiter der Laborschule
Für Rainer Devantié, Leiter der Laborschule, stehen der baldige Beginn der Sanierung der Versuchsschulen sowie kostenloses Essen für alle Institutionen, die mit Kindern arbeiten, ganz oben auf der Wunschliste im Bildungsbereich.

Wie funktioniert Schule ohne Noten? Was passiert, wenn Kinder im Unterricht mitbestimmen dürfen? Wenn es kein Sitzenbleiben gibt und keine Klassenzimmer? Als die beiden Versuchsschulen des Landes Nordrhein-Westfalen im September 1974 an den Start gingen, waren solche Ideen fast revolutionär, aber die Zeit schien reif für Veränderungen. In der Gesellschaft herrschte Aufbruchstimmung, Bildung war ein Schlüsselwort, um das Land voranzubringen – und Reformpädagoge Professor Dr. Hartmut von Hentig konnte seine Vision einer „Laboratory School“ in der Tradition des amerikanischen Pädagogen und Philosophen Jon Dewey in Bielefeld verwirklichen. Gefeiert wird das 50-jährige Bestehen beider Schulen mit einer Festwoche „50 Jahre neues Lernen“ vom 9. bis 14. September.

Praxisnahe Forschung im Schulbetrieb

Schon bei der Gründung lautete eine Bedingung: Die Schulen sollten an die Universität angebunden sein, Praxis und Forschung eng verzahnt werden. Das gilt bis heute. „Ein Großteil der Ideen und der Forschungsleistung kommt von den Lehrkräften“, betont Annette Textor und freut sich über einen „kooperativen, zirkulären Prozess“.

Das heißt: Lehrer*innen werden immer wieder zu Forschenden, greifen Probleme aus dem Schulalltag auf, entwickeln gemeinsam mit Wissenschaftler*innen Konzepte, die dann wieder im Unterricht erprobt und gemeinsam mit der Universität evaluiert, weiterentwickelt oder verworfen werden. „Dadurch entsteht eine große Praxisnähe, es werden viele Themen aus dem Schulalltag aufgegriffen, die sonst vielleicht untergehen würden“, ergänzt Professor Dr. Martin Heinrich, der an der Universität die Wissenschaftliche Einrichtung des Oberstufen-Kollegs leitet. „Und wir finden auch Dinge heraus, die niemand so richtig hören will.“

2024-08-22_ Heinrich, Martin
Prof. Dr. Martin Heinrich wünscht sich mehr praxisnahe Forschung zu Veränderungen in Schulen.

Freiraum schafft Chancen

Was er konkret meint? Zu viele Kinder scheitern in der Schule, werden zu wenig gefördert und zu früh ausselektiert, stellt Heinrich klar. „Am Oberstufen-Kolleg hat rund ein Drittel der Schüler*innen keinen Q-Vermerk, dürfte also rein rechtlich ohne die Sonderregelung des Oberstufen-Kollegs gar keine gymnasiale Oberstufe besuchen, wäre also von vornherein ausgeschlossen. Davon bringen wir mehr als die Hälfte zum Abitur oder zur Fachhochschulreife. Das ist eigentlich eine massive Diskreditierung des bestehenden Systems.“

Auch die Laborschule zeige als inklusive Grund- und Gesamtschule, dass es ohne Sitzenbleiben, Noten und Zeugnisse geht. Erst ab Jahrgangsstufe 9 werden Noten eingeführt, um anerkannte Schulabschlüsse zu ermöglichen. Und die erreichen fast alle, betont Annette Textor. „Auch die mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt, die anderswo aus dem System herausfallen würden.“ Immerhin bis zu zehn Prozent der Schüler*innen an der Laborschule. Insgesamt liegt die Abschlussquote an der Laborschule bei etwa 98 Prozent gegenüber 94 Prozent im Regelschulsystem. Heinrich: „Wir sind immer noch die Provokation im System und zeigen, dass viele Dinge möglich wären, wenn man sie wollte und den Schulen Freiraum gäbe.“  

Schulreformen bestätigen Bielefelder Praxis

Aber es bewege sich auch etwas, ergänzt Dr. Lutz van Spankeren – „trotz aller fragwürdigen Standardisierungsbestrebungen auf der Ebene der Kultusministerkonferenz“. So sieht der Leiter des Oberstufen-Kollegs in dem aktuellen Eckpunktepapier des nordrhein-westfälischen Schulministeriums die langjährige schulische Praxis des Kollegs weitgehend bestätigt. „Mehr Wahlfreiheiten bei den Fächern, die Stärkung fächerübergreifender Perspektiven, die Aufwertung möglicher Formate der Leistungserbringung jenseits von Klausuren und nicht zuletzt die Einführung von Präsentationsprüfungen im Abitur eröffnen Möglichkeiten, die in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung des Oberstufen-Kollegs im pädagogischen Selbstverständnis seit langem verankert sind.“

Portraitfoto von Dr. Lutz van Spankeren, Leiter des Oberstufen-Kollegs
Persönlichkeitsentwicklung und individuelle Freiheiten bei der Wahl der Lernschwerpunkte sollten in allen Oberstufen selbstverständlich sein, meint Dr. Lutz van Spankeren, Leiter des Oberstufen-Kollegs.

Europaweit entstehen neue Versuchsschulen

Martin Heinrich wünscht sich vor allem mehr Pragmatismus, Flexibilität und praxisnahe Veränderungen, die von Schule zu Schule ganz unterschiedlich ausfallen können. Wie das gehen kann, zeige der Schulverbund „Blick über den Zaun“ mit rund 130 Reformschulen. Mit Freude beobachtet er außerdem, dass derzeit in Deutschland und Europa gleich mehrere LabSchools, die an Universitäten angebunden sind, eingerichtet wurden, etwa in Dresden, Köln oder Aachen. Weitere, beispielsweise in Essen und Potsdam, sollen folgen. „Vielleicht ist das auch einer unserer Exportschlager“, sagt Heinrich. „Ein paar Jahrzehnte lang schienen wir wie aus der Zeit gefallen und waren allein auf weiter Flur. Jetzt sind wir wieder voll im Trend.“  

Stichwort: Demokratiepädagogik

Mitsprache, soziale Verantwortung übernehmen, Demokratie im Kleinen leben und lernen – diese Grundsätze ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Versuchsschulen. In den Anfangsjahren ging es vor allem darum, Mitbestimmung durch Strukturen zu ermöglichen und Gremien aufzubauen, zum Beispiel Schüler*innenvertretungen, erklärt Martin Heinrich. Inzwischen werde es immer wichtiger, sich mit vielfältigen Meinungen auseinanderzusetzen, in komplexen Zusammenhängen zu denken und das eigene Umfeld mitzugestalten. Am Oberstufen-Kolleg können sich Jugendliche zum Beispiel in dem fächerübergreifenden Kurs „Demokratische Partizipation“ einbringen und ihren Schulalltag verbessern. In einem Projekt haben sie sich kürzlich beispielsweise mit Genderfragen beschäftigt und Unisex-Toiletten am Kolleg eingerichtet.
Ein weiteres Beispiel aus der Laborschule: Dort ist Mitbestimmung nicht erst ab Jahrgangstufe 5 möglich, sondern bereits in der Primarstufe. Schon die Jüngsten können sich in Gruppenräte und Schüler*innenparlamente einbringen. In einem aufwändigen Prozess wurde eine „Verfassung“ erarbeitet und genau festgelegt, welche Entscheidungen die Erwachsene treffen, was die Kinder allein und was sie gemeinsam mit den Lehrer*innen entscheiden. So dürfen die Kinder zum Beispiel selbst über ihre Kleidung bestimmen. „Das kann auch dazu führen, dass sie mit Socken draußen in der Pfütze spielen“, sagt Annette Textor. In der Sekundarstufe I geht es dann verstärkt darum, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, als Gruppe zu entscheiden und Kompromisse zu finden.