Schmerzen im Kiefer, zwischen den Schulterblättern oder im Oberbauch, Übelkeit, unerklärliche Erschöpfung – welche Krankheit könnte eine Frau mit diesen Symptomen haben? Keine Ahnung? Neuer Versuch, dieselbe Erkrankung: Bruststechen und Schmerzen im linken Arm. Sofort klar, oder? Das sind die gemeinhin bekannten Anzeichen eines Herzinfarkts. Problem dabei: Es handelt sich um typisch männliche Symptome, weshalb eine Frau mit Herzinfarkt unter Umständen nicht korrekt diagnostiziert und angemessen medizinisch versorgt wird. Nur ein Beispiel von vielen, das zeigt: Frauen und Männer unterscheiden sich – auch beim Kranksein und Gesundwerden – und die logische Schlussfolgerung daraus liegt eigentlich auf der Hand: Es bedarf einer Medizin, welche die Kategorie Geschlecht bei Forschung, Diagnostik und Behandlung stärker einbezieht.
An der Universität Bielefeld entsteht zurzeit etwas Neues: Die Medizinische Fakultät OWL befindet sich im Aufbau. Professuren werden besetzt, das Curriculum entwickelt, Schwerpunkte definiert. Schon bevor 2021 die erste Kohorte ihr Studium aufnimmt, steht fest, dass die geschlechtersensible Medizin für das Profil der Fakultät eine wichtige Rolle spielen soll. „Die geschlechtersensible Medizin ist in Deutschland, aber auch international, noch ausbaufähig“, sagt Professorin Dr. med. Claudia Hornberg, Dekanin der Medizinischen Fakultät. „Gemeinsam mit der sehr engagierten Gleichstellung der Fakultät war es mir daher ein besonderes Anliegen, das Thema im Zuge der Fakultätsgründung rasch auf den Weg zu bringen sowie in Forschung und Lehre querschnittlich und sichtbar zu verankern.“
Doch was genau ist geschlechtersensible Medizin, wozu ist diese Fachrichtung gut? Da hilft ein Blick zurück, denn historisch gesehen war der männliche Körper in der Medizin lange Zeit das Maß der Dinge. An ihm wurde geforscht, Arzneimittelstudien waren an Männern ausgerichtet, auch die meisten Abbildungen in Anatomie-Büchern – teilweise bis heute: männlicher Natur. Mediziner*innen gingen davon aus, dass die Körper von Männern und Frauen samt innerer Organe ähnlich funktionieren, Krankheitsausprägungen und die Reaktion auf Arzneimittel vergleichbar sind. Geändert hat sich das erst, als US-amerikanische Forscher*innen in den 1990er Jahren zeigen konnten, dass sich die Symptomatik beim Herzinfarkt signifikant unterscheiden kann.
Biologisches und soziales Geschlecht spielen eine Rolle
„Das war gewissermaßen die Geburtsstunde der geschlechtersensiblen Medizin, wie wir sie heute verstehen“, sagt Professorin Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Leiterin der Arbeitsgruppe für Geschlechtersensible Medizin. „Wir sehen einerseits biologische Geschlechteraspekte und -unterschiede, die beispielsweise beeinflussen, welche Symptome ein Mensch zeigt oder wie er auf eine Arzneimitteltherapie reagiert. Auf der anderen Seite spielt auch das soziale Geschlecht bei der Erkennung und Behandlung von Krankheiten eine Rolle, und zwar insofern, dass es unter anderem beeinflusst, ob sich eine Person überhaupt ärztliche Hilfe holt, ob sie oder er dort ernst genommen oder welche Diagnostik und Therapie dann angeboten wird. Es ist also ein Zusammenspiel dieser zwei Aspekte von Geschlecht, die sich auf die Versorgung und Gesundheit der Gesamtbevölkerung auswirken.“
© Universität Bielefeld
So wie beim Herzinfarkt. Wie anfangs beschrieben, zeigen sich beim Herzinfarkt auf biologischer Ebene bei den Geschlechtern oft unterschiedliche Krankheitsbilder. Zwar können auch Frauen typische Herzinfarktsymptome wie Brustschmerzen oder Atemnot haben, häufiger treten bei ihnen jedoch andere Anzeichen auf. Welche Rolle das soziale Geschlecht spielen kann, zeigen Erfahrungsberichte: In der Fernsehsendung Planet Wissen zum Thema „Medizin und Geschlecht: So unterscheiden sich Symptome und Therapien“ beispielsweise erzählen mehrere Frauen, dass ihr Herzinfarkt – zunächst – nicht als solcher erkannt wurde. Stattdessen wurde als Ursache der eher atypischen Symptome unter anderem Stress vermutet, einer Patientin vom Notarzt gar gesagt, sie könne ruhig zugeben, dass sie sich mit ihrem Partner gestritten und deshalb hyperventiliert habe.
Folgen der (Un)gleichbehandlung
Kaum vorstellbar, dass ein Mann mit Atemnot, statt angemessen medizinisch versorgt zu werden, solch eine Unterstellung zu hören bekäme. Diese Ungleichbehandlung kann mitunter tragische Folgen haben. Um beim Beispiel Herzinfarkt zu bleiben: Bis heute haben Frauen ein größeres Risiko daran zu sterben als Männer. Weil sie im Schnitt später den notärztlichen Dienst rufen, im Krankenhaus länger warten müssen, seltener die passende Diagnose und Therapie erhalten.
Und der Herzinfarkt ist vielleicht das bekannteste, aber längst nicht das einzige Beispiel. „Wenn wir etwas genauer hinsehen, lassen sich bei fast allen Erkrankungen Unterschiede feststellen, die verschiedene Ebenen betreffen können“, betont Oertelt-Prigione. Das reiche von Alzheimer über Morbus Parkinson bis hin zu Osteoporose, Autoimmunerkrankungen und Depressionen. Und die Unterschiede erstrecken sich nicht nur auf Symptomatik oder Wahrnehmung und Behandlung, es ist auch möglich, dass Arzneimittel unterschiedlich wirken, beispielsweise weil Frauen sie anders verstoffwechseln als Männern. Früher waren vornehmlich männliche Probanden bei Studien zugelassen, sodass Daten zur Wirkweise bei Frauen schlicht fehlten. Stichwort: Gender Data Gap. Frauen bekamen die Arzneimittel einfach in der Dosis, die an Männern erprobt worden war. Klar, dass diese medikamentöse Gleichbehandlung für Frauen zum Problem werden konnte. Wie bei einem Schlafmittel, nach dessen Einnahme manche Frauen am nächsten Morgen vermehrt Verkehrsunfälle hatten – unter anderem weil ihre Körper das Mittel nicht so schnell abbauten wie die männlichen Studienteilnehmer.
Auch Männer profitieren
Zwar werden Frauen heutzutage in der Regel bei Medikamentenstudien eingeschlossen, allerdings verbessert das die Situation nicht zwangsläufig: Häufig werden die Daten bei der Publikation dann nämlich nicht nach Geschlechtern getrennt, sodass Unterschiede hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungen nicht systematisch aufgeführt werden. Da käme eine geschlechtersensible Medizin also Frauen wie Männern gleichermaßen zugute. Und auch bei einigen Krankheiten – beispielsweise Osteoporose oder Depressionen –, die typischerweise eher Frauen zugeschrieben werden, würden Männer von dieser Herangehensweise profitieren. Denn solche Erkrankungen treffen auch häufig Männer, sind dann allerdings oft unterdiagnostiziert, was wiederum bedeutet, dass sie gegebenenfalls nicht bestmöglich behandelt werden.
Genau das, die bestmögliche Versorgung aller erkrankten Personen, sei aber das Ziel von geschlechtersensibler Medizin, so Sabine Oertelt-Prigione. Zwar hat diese ihren Ursprung in der jahrzehntelangen Benachteiligung von Frauen und strebt nach wie vor danach, den oft auf Stereotypen beruhenden Umgang mit Patientinnen und ihren Krankheiten zu überwinden. So wurde eine Vielzahl von Erkrankungen, unter denen vor allem Frauen leiden – Endometriose zum Beispiel –, lange als nicht wichtig genug angesehen, um dazu Forschung zu betreiben. Aber: „Wenn wir hier ein bisschen breiter denken, wird Geschlecht nur ein Faktor sein“, sagt die Medizinerin.
Menschen, keine Organe
„Wir streben einen Individualisierungsprozess an, sodass wir in der medizinischen Versorgung neben dem Geschlecht langfristig gesehen noch weitere Faktoren berücksichtigen.“ Das Alter zum Beispiel sei auch wichtig, die Organe etwa funktionieren mit 70 anders als mit 20. Und neben solch biologischen Faktoren gibt es noch eine Reihe sozialer Aspekte, die beispielsweise den Zugang zu Versorgung beeinflussen, wie die sozio-ökonomische Lage, Bildung, Behinderung oder Rassismus-Erfahrungen. „Da kommen Menschen zu uns, keine Organe!“, hebt Oertelt-Prigione hervor. „Menschen mit einer Geschichte. Und wie wir die wahrnehmen, beeinflusst letztendlich unsere diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen.“
Sabine Oertelt-Prigione ist sich darüber bewusst, dass das Minimieren von (Geschlechter-)Ungerechtigkeit im medizinischen System ein zäher Prozess ist. Mit ihrer Arbeit möchte sie einen Beitrag dazu leisten, dass sich zumindest auf lange Sicht etwas ändert, denn, so die Professorin für geschlechtersensible Medizin: „Was mich an der Sache am meisten irritiert, ist, dass wir es hier im Grund genommen mit Diskriminierung zu tun haben. Und ich denke so etwas sollte in einer modernen Medizin, einer modernen Gesellschaft, im Jahr 2024 keinen Platz mehr haben!“
Veranstaltungen zur Gendersensiblen Medizin
© L.A. Cicero
Im akademischen Jahr 2023/2024 übernimmt Professorin Londa Schiebinger die Gender-Gastprofessur der Universität Bielefeld, auf Initiative der Arbeitsgruppe AG 10 Geschlechtersensible Medizin und des Bereichs Gleichstellung der Medizinischen Fakultät OWL. Ziel ist es, mit der Einladung der renommierten Forscherin Professorin Londa Schiebinger, die innovative Forschung zur geschlechtersensiblen Medizin sowie die Geschlechter-(un-)gerechtigkeit in der Medizin in den Fokus zu rücken und weitere Impulse zur Integration von Gender-Aspekten in Forschung und Lehre an der Fakultät und der gesamten Universität zu setzen.
Im Juni 2024 finden zwei öffentliche Veranstaltungen mit Londa Schiebinger statt:
- Inspiring Science – Salon Talk with Londa Schiebinger (Dienstag 18.06.2024, 16:30 bis 18 Uhr)
- Gamification für gendersensible und intersektionale Lehre in der Medizin (Mittwoch, 19.06.2024, ganztägiger Workshop)
Studierende und Mitglieder der Medizinischen Fakultät OWL sowie alle Interessierten sind herzlich eingeladen
Alle Informationen zu den Veranstaltungen und zur Anmeldung finden Sie hier.