Blutvergiftungen, medizinisch als Sepsis bekannt, verursachen rund 20 Prozent der Todesfälle weltweit. Allein in Deutschland stirbt im Schnitt alle sechs Minuten ein Mensch an einer Sepsis. Ein großer Teil dieser Todesfälle wäre vermeidbar, sofern es gelingt, eine Blutvergiftung frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Ein interdisziplinäres Forschungsteam hat nun einen Durchbruch erzielt: Mithilfe Künstlicher Intelligenz entwickelten die Wissenschaftler*innen ein Modell, das die Früherkennung einer Sepsis ermöglicht. Die Grundlage dafür ist eine einfache Blutuntersuchung. Für die Studie kooperierten die Universitätskliniken Ostwestfalen-Lippe und Leipzig sowie die Universitäten Bielefeld, Leipzig und Greifswald.
Eine Sepsis entwickelt sich, wenn die Abwehrkräfte des Körpers nicht in der Lage dazu sind, eine Infektion einzudämmen. Die Erreger oder ihre Gifte gelangen in den Blutkreislauf. Daraus entwickelt sich eine heftige Reaktion im gesamten Körper, bei der es zu einem septischen Schock kommen kann, bei dem die Organe versagen. „Die Herausforderung besteht darin, dass eine Sepsis häufig viel zu spät diagnostiziert wird, obwohl bei der Behandlung jede Minute zählt“, sagt Professor Dr. Thorsten Kaiser von der Medizinischen Fakultät OWL. Er ist Leiter des Universitätsinstituts für Laboratoriumsmedizin, Mikrobiologie und klinische Pathobiochemie am Campus Klinikum Lippe des Universitätsklinikums Ostwestfalen-Lippe.
Ziel ist mehr Sicherheit im Krankenhaus
Kaiser hat die neue Studie zum Einsatz von Maschinellem Lernen zur Sepsis-Erkennung initiiert und geleitet, die jetzt in „Clinical Chemistry“ veröffentlicht wurde. Sie entstand aus dem Forschungsprojekt „AMPEL“ (Analyse- und Meldesystem zur Verbesserung der Patientensicherheit durch Echtzeitintegration von Laborbefunden“) am Universitätsklinikum Leipzig.
Das interdisziplinäre Forschungsteam aus Ärzt*innen, Naturwissenschaftler*innen und Informatiker*innen konzentrierte sich auf die Frage, ob es bestimmte Parameter im Blut gibt, mit denen sich die Früherkennung einer Sepsis verbessern lässt. Dazu trainierten sie ihr Modell mit rund 1,4 Millionen Blutbildern. „Im klinischen Alltag fehlt leider oft die Zeit, Laborwerte umfassend zu analysieren“, sagt Kaiser. „Unser Ziel war es, verborgene Muster in den Daten zu entdecken, die uns die bisherigen Methoden nicht offenbaren.“ Angestrebt war, ein Frühwarnsystem für den klinischen Bereich zu etablieren, das kritische Situationen in Echtzeit erkennt und die Sicherheit der Patient*innen erhöht.
Zuverlässige Früherkennung auf Basis vorhandener Daten
Das entwickelte Modell stellt einen Fortschritt dar, da es eine zuverlässige Früherkennung für das Risiko einer Sepsis ermöglichst – und das auf Basis eines kleinen Blutbilds. „Die anderen mir bekannten Modelle benötigen deutlich mehr Daten“, sagt Kaiser. Auch die Vorhersagekraft des bisher häufig genutzten Blutwerts Procalcitonin gilt als beschränkt. Hinzu kommt: Kleine Blutbilder werden im klinischen Bereich oft routinemäßig erstellt – die Daten liegen also in den meisten Fällen bereits vor und müssen nicht erst gesondert erfasst werden. „Wir können nicht ganz genau sagen, wie der Algorithmus seine Schlüsse aus den Daten zieht, es sind nicht nur die Konzentrationen der weißen Blutkörperchen und der Blutplättchen. Auch das Aussehen der roten Blutzellen spielt eine wichtige Rolle“, sagt Kaiser.
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Das Universitätsklinikum Ostwestfalen-Lippe plant nun die Einführung eines solchen Systems unter dem Namen DAISY (Digitales Informations- und Alarmsystem), das bei jeder Laboruntersuchung bestimmte kritische Parameter überwacht. Neben Sepsis sollen auch weitere lebensbedrohliche Zustände erfasst werden, um im Bedarfsfall schnell reagieren zu können. Dazu zählt etwa ein deutlich zu niedriger Kaliumwert, der zu Herzrhythmusstörungen führen kann. „Wenn innerhalb von sechs Stunden nicht reagiert wird, gibt es einen Alarm, dass auf der Station nachgehakt werden soll“, sagt der Wissenschaftler.
Intensivere Überwachung nach Frühwarnung
Es ist zudem wichtig, das System zur Früherkennung laufend zu verbessern und anzupassen. „Es soll ausreichend sensibel sein, aber auch keine Fehlalarme auslösen“, sagt der Internist und Labormediziner. Im Alltag im Krankenhaus bleibt oft wenig Zeit für die Patient*innen und ihre individuelle Situation. Kommt es gehäuft zu Fehlalarmen, besteht die Gefahr, dass Zuständige nicht mehr oder erst spät auf solche Alarme reagieren.
Wird eine Frühwarnung für eine Sepsis ausgelöst, geht es zunächst darum, den jeweiligen Patienten oder die Patientin intensiver zu überwachen. „Oft sieht man als Arzt die Personen nur einmal am Tag in der Visite“, sagt Kaiser. „Bei einer Frühwarnung ist es wichtig, die Betroffenen genau im Blick zu haben.“ Dann spielen Fragen wie diese eine Rolle: Hat sich seit der Visite etwas verändert? Wie wirkt die Patientin oder der Patient? Was sagt er oder sie über das eigene Befinden? Darüber hinaus scheint es auch Personen zu geben, die auf Grund von Vorerkrankungen oder genetisch bedingt ein höheres Risiko dafür haben, eine Sepsis zu entwickeln. „Auch solche Personen wollen wir noch besser identifizieren, damit wir wissen, auf wen wir im Krankenhaus ein besonderes Auge haben sollten.“
Clinical Chemistry
Die internationale Fachzeitschrift wird von der American Association for Clinical Chemistry (AACC) herausgegeben und konzentriert sich auf neue Forschungsergebnisse, Techniken und Entwicklungen in der Chemie, Biochemie und Molekularbiologie in Bezug auf die Laboratoriumsmedizin. Mit 9,3 hat Clinical Chemistry den derzeit zweithöchsten Impact-Faktor unter den Zeitschriften der klinischen Chemie, der Labormedizin, der Pathologie, der analytischen Chemie, der Transfusionsmedizin und der klinischen Mikrobiologie.
Weitere Informationen:
Website des Projekts
Originalveröffentlichung:
Daniel Steinbach, Paul C. Ahrens, Maria Schmidt, Martin Federbusch, Lara Heuft, Christoph Lübbert, Matthias Nauck, Matthias Gründling, Berend Isermann, Sebastian Gibb, Thorsten Kaiser: Applying Machine Learning to Blood Count Data Predicts Sepsis with ICU Admission. Clinical Chemistry, https://doi.org/10.1093/clinchem/hvae001, erschienen am 2. März 2024.