Im akademischen Jahr 2023/24 übernimmt Professorin Dr. Londa Schiebinger die Gender-Gastprofessur an der Universität Bielefeld. Die Gleichstellungskommission der Medizinischen Fakultät OWL sowie die Arbeitsgruppe Geschlechtersensible Medizin haben die Wissenschaftshistorikerin eingeladen. Schiebinger ist John L. Hinds Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Stanford University und Gründungsdirektorin von „Gendered Innovations in Science, Health & Medicine, Engineering, and Environment“ – ein Projekt, das Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik durch die Integration von geschlechtsspezifischen und intersektionalen Analysen im Forschungsdesign aufzeigt und fördert. Seit Jahren beschäftigt sich die US-Amerikanerin mit der Frage, warum es wichtig ist, dass wissenschaftliche Analysen geschlechtsspezifisch angelegt sind – also das biologische und soziale Geschlecht (im Englischen „sex“ und „gender“) einbeziehen – und wie sich die Kategorien von Geschlecht in Forschungs- und Lehrstrukturen integrieren lassen.
Warum sollten Wissenschaftler*innen in ihrer Arbeit die unterschiedlichen Kategorien von Geschlecht und auch Intersektionalität, das heißt weitere möglicherweise diskriminierend wirkende Faktoren wie kulturelle Herkunft, Alter oder Behinderung, berücksichtigen?
Lassen Forschende diese Kategorien außer Acht, kann das die Ergebnisse verzerren, was im schlimmsten Fall Menschenleben kostet. In unserer ersten Fallstudie zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben wir beispielsweise darüber berichtet, wie die Analyse des biologischen Geschlechts in der klinischen Forschung zu dem Verständnis geführt hat, dass Herzerkrankungen bei Frauen oft eine andere Pathophysiologie aufweisen als bei Männern – insbesondere bei jüngeren Erwachsenen.
Vor welchen Hindernissen stehen Forschende, die das biologische Geschlecht, Gender und Intersektionalität in ihre Studien integrieren wollen?
Das größte Hindernis besteht darin, dass Forscher*innen in den Naturwissenschaften, in Gesundheit und Medizin sowie in den Ingenieurwissenschaften in der Regel nicht wissen, wie man anspruchsvolle Analysen zum biologischen Geschlecht und zu Gender durchführt – und noch weniger wissen, was Intersektionalität ist. Sex- und Gender-Analysen wurden in den Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt und haben größtenteils nicht den Weg über die disziplinären Grenzen hinweg in andere Teile der Universität gefunden. Dieses Versäumnis ist besonders gefährlich für die medizinischen Fakultäten. Um die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten, müssen Wissenschaftler*innen die neuesten Methoden, Techniken und Erkenntnisse in Bezug auf die Kategorien von Geschlecht und weiteren Faktoren in den Lehrplan aufnehmen.
Gibt es institutionelle Vorgaben hinsichtlich der Einbeziehung geschlechtsspezifischer und intersektionaler Aspekte in Forschungsprojekte?
In ihrem jüngsten Förderprogramm verlangt die Europäische Kommission von Antragstellenden, eine geschlechtsspezifische und/oder intersektionelle Analyse in das Forschungsdesign zu integrieren – oder zu begründen, warum es in ihrem Fall nicht von Bedeutung ist. Für die reine Mathematik oder die theoretische Physik mag es nicht relevant sein, für die große Mehrheit der Bereiche aber schon. Die neue EU-Politik bedeutet, dass alle Forschenden – sei es in den Geisteswissenschaften, der Medizin oder im Ingenieurswesen – diese Art von Analyse einbeziehen müssen, sofern sie relevant ist. Der Gedanke dahinter ist, dass Forschung der gesamten Gesellschaft zugutekommen sollte, wenn dafür Steuergelder verwendet werden. Gendered Innovations arbeitet seit 2011 mit der Europäischen Kommission zusammen, um Methodik und Fallstudien zur Unterstützung dieser Politik bereitzustellen.
Worum geht es in dem Projekt?
In den letzten vierzig Jahren hat sich meine Forschung auf drei analytisch unterschiedliche, aber ineinandergreifende Teile konzentriert: die Geschichte der Beteiligung von Frauen an der Wissenschaft, die Struktur wissenschaftlicher Institutionen und die geschlechtsspezifische Ausrichtung des menschlichen Wissens. Aus dem dritten Ansatz heraus ist das Gendered Innovations-Projekt entstanden, dessen Ziel es ist, Wissenschaftler*innen aus allen Disziplinen praktische Methoden und Leitlinien an die Hand zu geben, um Analysen durchführen zu können, die Kategorien von Geschlecht und weitere Faktoren berücksichtigen. Wir haben die Materialien in mehrjähriger internationaler Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission, der U.S. National Science Foundation und der Stanford University entwickelt. Inzwischen haben wir nach Japan, Südafrika, Südkorea und Uruguay expandiert; 2015 wurden in Korea und 2022 in Japan Institute für geschlechtsspezifische Innovationsforschung eröffnet. Und wir haben bislang mit mehr als 220 Expert*innen aus Europa, den Vereinigten Staaten, Kanada und Asien kooperiert. Es ist sehr spannend, über vierzig Beispiele – unter anderem zu Stammzellen, Osteoporose-Forschung bei Männern, künstliche Intelligenz, geschlechtsspezifische Sozialroboter und Meeresforschung – auf unserer Internetseite zu sehen, die ganz konkret zeigen, wie geschlechtsspezifische und/oder intersektionelle Analysen zu Entdeckungen und Innovationen führen können.
Gender-Gastprofessur
© Robert-Bosch-Stiftung / Max Lautenschläger
Die Gender-Gastprofessur ist eine seit 2012 universitätsweit etablierte Wanderprofessur. Ziel ist, die Geschlechterforschung in den jeweiligen Fachdisziplinen in Forschung und Lehre strukturell zu unterstützen und sichtbar zu machen. „Londa Schiebinger ist eine exzellente, international anerkannte Forscherin, die sich nicht nur der Wissensproduktion widmet, sondern auch stets mitdenkt, wie sich dieses Wissen strukturell in Forschung und Lehre implementierten lässt“, sagt Professorin Dr. Sabine Oertelt-Prigione von der Medizinischen Fakultät OWL, die sich für die Gastprofessur von Schiebinger eingesetzt hat. „Dieses Überführen von Wissen in die Praxis ist nicht nur, aber auch in der Medizin von großer Bedeutung, sodass wir von Londa Schiebingers Kompetenz auf diesem Gebiet während ihrer Zeit hier in Bielefeld sicher sehr profitieren werden.“
Zum Programm der Gastprofessur
Während ihres ersten Aufenthalts in diesem Wintersemester hält Londa Schiebinger einen öffentlichen Vortrag und beteiligt sich an einem fachwissenschaftlichen Kolloquium, das die Medizinische Fakultät OWL gemeinsam mit dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZG) und dem Institute for Interdisciplinary Studies of Science (I2SoS) ausrichtet. Zudem wird es Austausch-Runden und Beratungsgespräche mit einschlägigen Arbeitsgruppen, wie der Geschlechtersensiblen Medizin, Geschichte und Theorie der Medizin sowie mit dem Dekanat im Bereich Lehre und Forschung geben. „Bei ihrem zweiten Aufenthalt im Juni 2024 soll es verstärkt darum gehen, den Dialog mit ihr in der Fakultät, auch mit Studierenden, zu stärken“, sagt Pia Brocke, Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät OWL. „Wir möchten aber auch, dass andere Fakultäten von der Gender-Gastprofessur profitieren. Professorin Schiebinger arbeitet unter anderem an der Schnittstelle von Medizin zu geisteswissenschaftlichen Fachgebieten. Sie wird Impulse zur Integration von Geschlechter-Aspekten in Forschung und Lehre in die gesamte Universität tragen.“