Haben Eltern keine akademische Ausbildung, landen Kinder gegebenenfalls in einer Schublade, in die sie vielleicht gar nicht recht hineinpassen. Aus der hinauszukommen aber mitunter nicht so einfach ist – wenn familiäre Vorbilder oder anderweitige Unterstützung fehlen. Das haben 2008 drei Studierende aus Friedrichshafen am Bodensee erkannt und ROCK YOUR LIFE! als Initiative für mehr Bildungsgerechtigkeit gegründet. Inzwischen gibt es 52 Standorte in fünf Ländern – auch im Verein an der Universität Bielefeld setzen sich die Studentinnen Anna-Maria Tiemann, Nele Spielberg und Johanna Reckers für Chancengerechtigkeit ein. Für ihr ehrenamtliches Engagement sind sie nun mit ROCK YOUR LIFE! Bielefeld e.V. für den Preis „Engagiert studiert“ des Ehemaligennetzwerks der Universität Bielefeld e.V. nominiert.
Wie es sich anfühlt, als Erste aus der Familie das Abitur zu machen und zu studieren, wissen Anna-Maria Tiemann und Nele Spielberg aus eigener Erfahrung. Ihre Eltern haben ein Handwerk gelernt, arbeiten in der Tagespflege oder als Einzelhandelskauffrau. „Meine Eltern haben sich die größte Mühe gegeben, mich so gut wie möglich zu fördern“, sagt Spielberg. „Trotzdem hätte ich mich zu Schulzeiten sehr gefreut, wenn es ein Angebot wie ROCK YOUR LIFE! bei mir gegeben hätte, denn es erfordert viel Kraft und Mut, als erstes Familienmitglied die akademische Welt zu betreten.“ Um heutige Schüler*innen bei ihrem Werdegang zu unterstützen und ihnen ein bisschen mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen, engagiert sich die 21-jährige Studentin der Germanistik und Erziehungswissenschaften ebenso wie die ein Jahr jüngere Jura-Studentin Anna-Maria Tiemann seit dem Frühjahr vergangenen Jahres bei ROCK YOUR LIFE!.
Chancengerechtigkeit ist das große Thema der ehrenamtlich engagierten Studierenden von ROCK YOUR LIFE! Bielefeld e. V. Dafür unterstützen Bielefelder Studierende wie Anna-Maria Tiemann, Nele Spielberg und Johanna Reckers Bielefelder Schüler*innen bei ihrem Werdegang.
Wir sind ROCK YOUR LIFE! Bielefeld. Wir setzen uns für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit ein. Wir arbeiten mit der Martin Niemöller Gesamtschule, in Schildesche, zusammen und organisieren immer ein Mentoring Programm für ein Jahr, das heißt mit Mentis aus der 9. Klasse und mit Mentor*innen von der Uni, von der FH, von der Handwerkskammer. Und wir werden zusammen gematched, immer in Paaren, die dann das Jahr zusammen verbringen. Und wir unterstützen die persönlich,
indem wir immer für sie da sind und indem wir auch das Drumherum organisieren. Wir haben drei professionelle Trainings, in denen es um das Thema Berufsfindung geht, aber auch persönliche Bestärkung.
Ich finde es cool, Schüler*innen, die Möglichkeit zu geben, noch mal eine andere Perspektive zu geben. Also mein Menti zum Beispiel hat Eltern, die haben nicht studiert, die sprechen auch nicht so gut Deutsch und da zu ermöglichen, dass es eine Ansprechperson gibt, die sich vielleicht hier in dem Uni System
ein bisschen besser auskennt. Und ich lerne super viel von meinem Menti.
Wie ich aufgewachsen bin und was ich für Ressourcen hatte, die andere nicht haben und was
das bedeutet, wenn man die nicht hat. Und das lässt mich noch mal viel mehr wertschätzen
in was für einer Umgebung ich aufgewachsen bin. Und das finde ich total wertvoll.
Also am meisten Spaß, würde ich sagen, macht es immer, wenn wir in der ganzen Gruppe unterwegs sind,
also mit der ganzen Kohorte nennen wir das ja mit allen Mentis und Mentor*innen. Und dass man da wirklich vor allem nach dem Jahr eher so zum Ende hin halt sieht,
wie die wirklich zusammengewachsen sind, wie die sich verstehen und auch wie die Mentis sich
teilweise entwickelt haben. Am Anfang eher schüchtern und zurückhaltend
und mochten mit keinem reden und am Ende total offen Haben sich irgendwie auch ein bisschen selbst
gefunden und das ist einfach total schön zu sehen, dass man die da auch bestärkt irgendwo in der Persönlichkeit.
Man kann auf jeden Fall sehr, sehr gerne mitmachen, bei uns. Wir brauchen ja wirklich immer richtig
viele Leute. Eben die Mentor*innen brauchen wir jedes Jahr neue Leute dafür. Aber man kann auch auf Dauer eben zu uns ins Orgateam kommen, jeder so das finden kann, was einem Spaß macht.
Ich denke, es ist einfach immer wichtig, auch der Gesellschaft was zurückzugeben. Ich denke generell ist man ja auch so privilegiert in Deutschland, dass man eben studieren kann und dass das alles so für alle möglich ist und dass man dann ja vielleicht auch nebenbei, auch wenn es nur ein ganz kleiner Teil ist, ein bisschen was zurückgeben kann, ein bisschen generell die Gesellschaft unterstützen kann. Ich denke, das ist immer toll und an so einem Ort wie die Uni, wo es eben so ganz viele Möglichkeiten gibt, sich auszutauschen oder zu finden,was man da machen kann, dass man das auf jeden Fall nutzen sollte.
Der Verein bietet Neuntklässler*innen der Martin-Niemöller-Gesamtschule in Bielefeld ein einjähriges Mentoring-Programm an. Studierende der Uni und FH sowie Auszubildende der Handwerkskammer stehen den sogenannten Mentees in dieser Zeit als Mentor*innen zur Seite. Neben diesen Eins-zu-Eins-Beziehungen organisiert der Verein auch drei professionelle Trainings für die Programmteilnehmenden. „Wir sind Potenzialentfalterinnen“, meint Tiemann und erklärt: „Bei den Workshops geht es unter anderem um eine Analyse der eigenen Stärken, die Berufsfindung und das Entwickeln von Zielen. Vielen Teilnehmenden hilft es, sich darüber bewusst zu werden und zum Beispiel ein Ziel vor Augen zu haben, weil sie dann engagierter sind, dort auch hinzukommen.“ Und: „Nicht nur die Mentees profitieren in ihrer persönlichen Entwicklung von der Mentoring-Beziehung und den Workshops“, sagt Johanna Reckers. „Auch die Mentor*innen können da oft viel draus mitnehmen.“ Auch langfristig und allgemein bereichere ROCK YOUR LIFE! das studentische Leben, indem es die Diversität der (zukünftigen) Studierendenschaft fördere.
© Universität Bielefeld/E. Berz
Dass das Studium ihres Vaters – und auch ihr eigenes Master-Studium der InterAmerican Studies – ein Privileg ist, darüber ist sich die 26-Jährige bewusst. Mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit bei ROCK YOUR LIFE! möchte sie dazu beitragen, gerechte Chancen für alle herzustellen, denn: „Die soziale Herkunft bestimmt nach wie vor den Bildungsweg. Ich finde es wichtig, strukturelle Hindernisse zu minimieren, sodass noch mehr junge Menschen leichter Zugang zu Bildung bekommen.“ Ihr Engagement beschreibt Reckers als einen Brückenbau zwischen Menschen, die sich normalerweise wahrscheinlich nicht getroffen hätten, wodurch die Mentees Zugang zu sonst für sie eher schwer zugänglichen Ressourcen bekämen.
Wie die – pro Jahr meist zehn bis fünfzehn – Paare ihre Mentoring-Beziehung ausgestalten, steht ihnen frei. „Es ist aber wichtig, dass sie regelmäßig Kontakt haben“, betont Anna-Maria Tiemann. „Wir mischen uns nicht ein, wenn es darum geht, ob sich ein Paar einmal in der Woche persönlich trifft oder lieber telefoniert, aber wir haben die Paare im Blick und fragen nach, ob sie Unterstützung brauchen oder vermitteln bei Schwierigkeiten.“
© Universität Bielefeld/E. Berz
Und das ist nicht die einzige Aufgabe der engagierten Studentinnen. Tiemann und Spielberg haben den Vorstandsvorsitz des Vereins inne, Reckers koordiniert als Vorstandsmitglied seit eineinhalb Jahren das Mentoring, aber: „Aktuell macht jede von uns eigentlich alles!“, merkt Spielberg an. Heißt konkret: Die drei halten Kontakt zu allen Beteiligten, wozu auch Unternehmen zählen, die für die Programmteilnehmenden dann zum Beispiel Werksführungen oder Praktikumsplätze anbieten. Sie organisieren die Trainings, akquirieren Sponsoren und haben die Finanzen des Vereins im Blick. Bei Infoveranstaltungen in der Schule, Uni und FH bemühen sie sich darum, neue Mentees und vor allem Mentor*innen zu gewinnen.
Gerade da hakt es zurzeit. „Wir haben bislang nur wenige Mentor*innen für die nächste Kohorte gefunden“, sagt Reckers. Den diesjährigen Programmstart hat das Bielefelder ROCK YOUR LIFE!-Team deswegen nach hinten verschoben. „Wir geben unser Bestes, aber es ist sehr viel Orga-Arbeit für drei Personen. Wir bräuchten dringend Leute, die uns unterstützen.“ Auch deswegen haben sich Spielberg, Reckers und Tiemann für den Preis des Ehemaligennetzwerks beworben. „Wir versprechen uns davon, mehr Öffentlichkeit und Reichweite zu bekommen, das Programm bekannter zu machen“, erklärt Nele Spielberg. „Denn: Je mehr wir sind, desto mehr Schüler*innen können wir unterstützen.“ Ein Teil des Preisgelds würde folglich sicher in Werbung fließen, außerdem sollen Trainings und Gruppenevents davon bezahlt werden. „Je weniger wir uns um die Finanzierung kümmern müssen, desto mehr können wir unsere eigentliche Arbeit machen“, sagt Tiemann. Es sei schön, direkt zu sehen, wie ihr Engagement Einfluss auf die Mentees habe – auch, wenn es eine eher kleine Gruppe sei. „Ich sage gern“, ergänzt Spielberg: „Wenn ich nur einen Menschen bewegt, einem Menschen dabei geholfen habe, seine Stärken zu erkennen, habe ich schon viel erreicht. Und ich glaube, das leisten wir mit unserer Arbeit.“
„Die Mitglieder von Rock your Life engagieren sich für eines der drängendsten sozialen Themen: Chancengleichheit. Mit ihrem Mentoring-Ansatz der direkten und persönlichen Betreuung von Schüler*innen setzt sich das Rock your Life-Team dafür ein, Jugendlichen Perspektiven zu geben und sie bei ihrem Start in das (Arbeits-)Leben zu unterstützen. Dieser Einsatz verdient Würdigung.“