Medizinstudentin bereitet ein Medikament vor.

Vom Hörsaal in die Hausarztpraxis


Autor*in: Silke Tornede

Medizinstudierende der Universität Bielefeld bekommen schon früh Einblicke in den Arbeitsalltag von Ärzt*innen. Bereits im zweiten Semester steht ein Praktikum in Hausarztpraxen an. Für die ersten 60 Studierenden der neuen Medizinischen Fakultät ging es in diesem Sommer los. Wir haben eine Studentin beim „Schnuppern“ begleitet.

Leonie Resem legt noch schnell eine neue Auflage auf die Untersuchungsliege und zupft das Papier gerade. Dann kommt auch schon der nächste Patient – und wird nicht nur von seinem vertrauten Hausarzt, sondern auch von der Studentin im zweiten Semester begrüßt. Eine Woche lang arbeitet die 19-Jährige in der Praxis von Dr. Wolfgang Picker-Huchzermeyer mit, begleitet den Bielefelder Hausarzt und seinen Kollegen, schaut den Ärzten über die Schulter, ist bei Hausbesuchen dabei und darf auch selbst mitbehandeln und untersuchen. Ob der Patient etwas dagegen habe, wenn die Studentin den Gesundheits-Check übernimmt? Der 69-Jährige schüttelt mit dem Kopf. Im Gegenteil. Er findet es „klasse“, dass sie Medizin studiert und ermutigt: „Werden Sie Hausärztin. Wir brauchen Hausärzte. Das ist wichtig.“

Medizinstudierende steht vor Praxiseingang einer Hausarztpraxis.
Eine Woche lang hat Leonie Resem die beiden Ärzte in der Praxis Picker-Huchzermeyer im Bielefelder Osten begleitet.

Jeder Fall ist anders 

Mehr Wertschätzung für die Allgemeinmedizin und den ambulanten Bereich – die Medizinische Fakultät der Universität Bielefeld will dazu beitragen und setzt hier einen Schwerpunkt. Vom ersten Semester an gibt es dazu Vorlesungen, Seminare und Kleingruppenunterricht. Wie vielfältig die Arbeit in einer Hausarztpraxis ist und wie dankbar manche Patient*innen sind, überrascht Leonie Resem aber doch. „Vor dem Praktikum war ich eher kritisch“, gesteht sie. Grippale Infekte, ein paar Krankschreibungen – viel mehr habe sie nicht erwartet. Von wegen.   

Schnell ändert sich ihre Ansicht im Praktikum. Leonie Resem bekommt unterschiedlichste Diagnosen mit, von Wunden und Brüchen bis hin zu psychosomatischen Beschwerden, von Long-Covid bis zum Hautausschlag. „Jeder Fall ist anders, das macht es so spannend. Es kommen junge und alte Leute, auch mit komplizierten Anliegen“, erzählt die Studentin, der klar ist: Hausärzt*innen sind Ansprechpersonen für viele Dinge. Oft kennen sie Lebens- und Krankheitsgeschichten ganzer Familien, über Generationen. Der 69-Jährige Patient, der inzwischen mit nacktem Oberkörper auf der Liege sitzt, kommt seit 20 Jahren in die Praxis Picker-Huchzermeyer und erwähnt nebenbei, dass er beruflich lange Vollgas gegeben hat. Bis ihn sein Hausarzt überzeugte: Wenn er so weitermacht, wird die Gesundheit leiden. 

Während der Mann erzählt, tastet Leonie Resem Abdomen und Lymphknoten ab, erkundigt sich nach Beschwerden, hört Lunge und Herz ab. „Im Studium haben wir das mit Schauspielern geübt. Das kann ich jetzt gut anwenden.“ Wolfgang Picker-Huchzermeyer beobachtet im Hintergrund, gibt an einigen Stellen behutsam Tipps, erklärt, wie die Anamnese systematischer gemacht werden könnte. „Ja, die Reihenfolge war etwas durcheinander. Das kommt mit der Routine“, versichert der Arzt. 

Theorie und Praxis verzahnen

Dennoch: Wolfgang Picker-Huchzermeyer, auch Lehrbeauftragter an der Medizinischen Fakultät, ist begeistert, wie viel Grundverständnis die 19-Jährige für den Beruf nach einem Jahr Studium habe. „Genau das streben wir an. Wir wollen ja weg von einem verkopften Studium und von Anfang an das praktische Tun hineinbringen.“ Zu wissen, warum man theoretische Dinge lernt und das Wissen beim Menschen anwenden, darum gehe es. Der 73-Jährige möchte dem Nachwuchs dabei auch vermitteln, wie wichtig die Beziehung und eine gute Kommunikation mit den Patient*innen ist: Sich auf sie einzulassen, sie mitzunehmen und nicht von oben herab zu belehren, all das gehöre dazu. Leonie Resem kann das gleich umsetzen. Der Gesundheits-Check ist beendet. „Wie würde man jetzt den Abschluss machen?“ Die Studentin fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen, setzt einen positiven Schlusspunkt, ermutigt den Mann, aktiv zu bleiben, ohne sich zu überfordern. „Ja, früher wurde ich von außen bestimmt, heute bestimme ich selbst“, sagt der Bielefelder Patient und spart nicht mit Lob für die Studentin: „Klasse gemacht.“   

Und was sagt sie zu dem freundlichen Hinweis des Mannes: Werden Sie Hausärztin? Leonie Resem lacht. „Bis jetzt kann ich mich noch für vieles begeistern.“ Fest stehe nur: Sie möchte im ambulanten Bereich arbeiten, in einer Praxis, gerne auf dem Land. Orthopädie, Gynäkologie, nach dem Praktikum könne sie sich auch Allgemeinmedizin vorstellen. Aber erst einmal geht das Studium weiter. Mit Vorlesungen, Theorie – und vielen praktischen Einblicken. 

Lehrpraxen

Ab dem zweiten Semester machen Medizinstudierende der Universität Praktika in Lehrpraxen und erleben den Berufsalltag im ambulanten Bereich. Die Universität hat dazu Verträge mehr als Praxen in Ostwestfalen-Lippe unterzeichnet. Bis 2025 soll das Netz auf 300 Lehrpraxen ausgebaut werden, entsprechend der wachsenden Zahl der Studierenden. Neben den ein- bis zweiwöchigen Blockpraktika betreuen die Studierenden auch eine*n Patient*in über einen längeren Zeitraum und begleiten den Krankheitsverlauf und die Behandlung.