Das Mobilitätsprogramm Erasmus+ Internationale Dimension ermöglicht es Masterstudierenden, Doktorand*innen und Dozent*innen aus aller Welt, nach Bielefeld zu kommen, um ihre eigene Forschung voranzutreiben oder zu lehren. Pallabi Chattopadhyay von der Kathmandu University forscht von April bis September an der Universität Bielefeld für ihre Dissertation über visuelle Linguistik. Ein neues Gebiet, das in einer Welt, in der immer weniger Menschen lesen, zunehmend wichtiger wird. Pallabi Chattopadhyay erzählt von ihrer Zeit in Bielefeld:
„Nach meinem Master-Abschluss in Linguistik an der Jadavpur-Universität in Kolkata, Indien, bin ich in Bhutan und Nepal gereist und habe unterrichtet. Seit meinem Masterstudium hatte ich die Idee, in visueller Linguistik zu promovieren, und als ich auf einer Lehrendenkonferenz in Nepal einen Vortrag hielt, begann ich zufällig mit einigen Professor*innen über mein Vorhaben zu sprechen – ohne groß darüber nachzudenken. Als sich mir die Möglichkeit bot, an der Universität Kathmandu zu promovieren, war ich begeistert und habe angenommen.
Das aufkommende Forschungsfeld der visuellen Linguistik wird im 21. Jahrhundert zwangsläufig immer wichtiger werden – einfach deshalb, weil die Menschen immer weniger lesen. Ähnlich wie die Semiotik beschäftigt sich die visuelle Linguistik mit der Visualisierung von Sprache – also von Sprachen, die nicht geschrieben sind. Das ist natürlich ein sehr weites Feld. Man muss sich nur in der Halle der Universität Bielefeld mit ihren vielen Plakaten und Schildern umsehen. Visuelle Linguistik ist überall.
© Universität Bielefeld/Sarah Jonek
“Unsere Gesellschaft verlagert sich mehr und mehr von geschriebenen Texten zu visuellen Medien. Das Internet im Allgemeinen und die sozialen Medien im Besonderen sind Paradebeispiele für diesen Trend.”
Wir kommunizieren über Emojis und Sticker. Mein eigener Schwerpunkt liegt auf Comics, Graphic Novels und Manga. Ich habe mich schon immer für Cartoons und Comics begeistert – wie die meisten Kinder. Comics sind insofern besonders interessant, als sie sowohl geschriebene Texte als auch visuelle Darstellungen enthalten. Dadurch stellen sie eine bimodale Art des Lesens dar.
In meinem Promotionsprojekt untersuche ich die kulturübergreifende Wahrnehmung, genauer gesagt, die Wahrnehmung durch menschlichen Verstand.
Wenn ich zum Beispiel japanische Manga und chinesische Manhua lese, die beide von rechts nach links und von hinten nach vorne gelesen werden, fühle ich mich beim Lesen unwohl – ich fühle mich komisch. Das ist bei Menschen aus Japan und China natürlich nicht der Fall. Genau das sind die unterschiedlichen kulturübergreifenden Wahrnehmungen, die ich untersuchen möchte. Das würde uns helfen, die menschliche Kognition besser zu verstehen. Aber das ist eine Aufgabe fürs Leben, und ich würde gerne auch nach meiner Dissertation weiter in diesem Feld arbeiten.
In Bielefeld zu forschen war für mich ein Glücksfall. Mein Betreuer hat dieses Austauschprogramm über Professorin Joanna Pfaff-Czarnecka und Dr. Éva Rozália Hölzle von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld vermittelt und sagte mir, ich solle hierherkommen. Sie haben so eine tolle Bibliothek, sagte er. Ich hätte so viele Bücher, in denen ich lesen könnte, um mehr über das Thema zu lernen. Ich habe bereits unterrichtet und musste meinen Job aufgeben, um hierher zu kommen, also steckte ich in einem kleinen Dilemma: Sollte ich bleiben oder gehen? Jetzt, in meinem zweiten Jahr und als als Erasmus+ Mobilitätsstipendiatin, könnte ich mich nicht mehr darüber freuen, hier ein Semester lang zu forschen. In diesem Stadium ist meine Forschung hauptsächlich theoretisch, ich wähle den Korpus aus und bereite die Studien vor, so dass der Zugang zur Bibliothek von unschätzbarem Wert ist. Auch die Professor*innen hier haben mir bei meiner Forschung ungemein geholfen. Ich bin zum ersten Mal in Europa, und ich liebe es! Insbesondere in Deutschland schätze ich die Freiheit, tun zu können, was man will, und so zu sein, wie man sein will. Außerdem sind die Menschen in Bielefeld freundlich, hilfsbereit und man kommt leicht mit ihnen ins Gespräch. Ich kann einfach andere Kund*innen im Supermarkt fragen, wenn ich die Namen oder Texte auf einigen Produkten übersetzen muss – was wiederum auch ein mögliches Anwendungsfeld für die visuelle Linguistik sein könnte.“
Aufgezeichnet von: Stephan Kreher