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Osteuropa: Blinder Fleck auf Landkarte der Erinnerungskultur


Autor*in: Universität Bielefeld

Die Erinnerung der Deutschen an den Zweiten Weltkrieg ist von Ereignissen und Orten in Westeuropa geprägt. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse von MEMO – dem Multidimensionalen Erinnerungsmonitor. Demnach haben 58,5 Prozent der 1.000 repräsentativ Befragten noch nie bewusst einen Ort der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an seine Opfer außerhalb Deutschlands besucht. Diejenigen, die an Erinnerungsorten außerhalb der Landesgrenzen waren, beziehen sich am häufigsten auf Frankreich und dort auf die Kriegsschauplätze in der Normandie. MEMO V, die fünfte Repräsentativstudie zur Erinnerungskultur in Deutschland, wurde heute vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) vorgelegt.

Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ, hebt hervor: „Die europäische, besonders osteuropäische Dimension der Verbrechen der Nationalsozialisten ist hierzulande kaum bekannt, wie MEMO V zeigt. Das Bewusstsein für die massive Gewalt während der deutschen Besatzung im Osten ist gering. Das fordert Bildner*innen und Akteur*innen der Erinnerungskultur heraus, wenn es etwa darum geht, gegen die Instrumentalisierung von Geschichte im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine einzutreten. In der im Frühjahr 2023 erscheinenden MEMO-Jugendstudie werden wir ausloten, wie sich diese historische Zäsur in der erinnerungskulturellen Prägung von Jugendlichen ausgewirkt.“

Fehlendes Bewusstsein für die andauernde Diskriminierung von Sinti*ze und Rom*nja

Zwei Drittel (69,9 Prozent) der Studienteilnehmer*innen können keinen Ort nennen, der den während der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti*ze und Rom*nja gewidmet ist. Die Befragten sehen grundsätzlich eine ‚besondere moralische Verantwortung‘ Deutschlands gegenüber Sinti*ze und Rom*nja. Doch positioniert sich mehr als die Hälfte aller Teilnehmer*innen (55,2 Prozent) nicht eindeutig zu der Frage, ob sich die systematische Ausgrenzung und Diskriminierung dieser Gruppen in Deutschland über die NS-Zeit hinaus fortgesetzt haben. Dabei zeigt sich auch: Je intensiver Befragte sich mit der deutschen NS-Vergangenheit befasst haben, desto sensibler sind sie für historische Kontinuitäten wie die fortdauernde Diskriminierung von Minderheiten.

Portrait des Projektkoordinators Michael Papendick
Michael Papendick ist Koordinator des MEMO-Projekts am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Michael Papendick, Koordinator des MEMO-Projekts am IKG, ordnet ein: „Wir finden in den MEMO-Studien zwar, dass Menschen in Deutschland ein moralisches Empfinden zu den Verbrechen des Nationalsozialismus haben. Die moralische Verantwortung scheint aber für viele abstrakt und vor allem in der Vergangenheit verortet. Ohne Problembewusstsein erwächst aus einem Verantwortungsgefühl kein Handeln. Aufgabe von Erinnerungskultur ist auch die fortdauernde Sensibilisierung für die Folgen des Vergangenen und für die ganz realen gesellschaftlichen und strukturellen Kontinuitäten.“

Prof. Dr. Andreas Zick des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld
Prof. Dr. Andreas Zick ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Nur jede*r dritte Befragte (33,2 Prozent) ist der Meinung, dass Vertreter*innen der Gruppen, die in der NS-Zeit verfolgt wurden, in der deutschen Erinnerungskultur ausreichend repräsentiert sind. Besonders kritisch äußern sich hierbei jüngere Befragte – ihnen fehlt die Perspektive der ehemals Verfolgten in der Erinnerungskultur noch deutlicher. Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld: „In diesen Ergebnissen spiegeln sich gleich mehrere Herausforderungen und Konfliktfelder für die Kulturalisierung von Erinnerung wider: Zum einen zeigt sich, dass in der etablierten, oftmals ritualisierten deutschen Erinnerungskultur selektiv Geschichten nicht erzählt, sondern gesellschaftlich marginalisiert werden. Vor allem junge Menschen sind sich dessen bewusst und fordern ein, die Vielfalt von Perspektiven abzubilden – das gilt in der deutschen Postmigrationsgesellschaft auch über die Geschichte des Nationalsozialismus und seine Opfer hinaus. Die Chance neuer, diverser Zugänge zur Erinnerung an die deutsche Vergangenheit ist ein Bildungskapital und Erinnerungskultur kann bei allen Konflikten um das, was erinnert werden soll, Zusammenhalt stiften“, so Zick.

Über MEMO

MEMO ist eine repräsentative Umfrage zur Erinnerungskultur der Bundesbürger*innen. Seit 2017 bildet die jährliche Befragung ab, wie sich das gesellschaftliche Erinnern verändert. Für MEMO V/2022 sind 1.000 zufällig ausgewählte Personen im Zeitraum von Dezember 2021 bis Januar 2022 telefonisch befragt worden. Die Befragten waren zwischen 16 bis 93 Jahren alt. MEMO wird vom IKG der Universität Bielefeld durchgeführt und von der Stiftung EVZ aus ihren Stiftungsmitteln gefördert. Das Projekt zur Erinnerungskultur endet mit MEMO V. Eine Folge-Studie untersucht die Erinnerungskultur junger Menschen: Im Frühjahr 2023 werden das IKG und die Stiftung EVZ die Ergebnisse einer repräsentative Online-Befragung von Bundesbürger*innen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren veröffentlichen.

Über das IKG

Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) wurde 1996 in Bielefeld gegründet, mit dem Ziel, eine Lücke in der interdisziplinären Konflikt- und Gewaltforschung zu schließen. Mittlerweile ist das IKG eine der führenden deutschen Forschungseinrichtungen in diesem Bereich und bietet eine umfassende Struktur für interdisziplinäre Theorieentwicklung und empirische Forschung zu politisch und gesellschaftlich relevanten Phänomenen um Konflikte und Gewalt sowie ihren Implikationen für sozialen Zusammenhalt, Partizipation, Demokratie und Frieden. Seit 2020 ist das IKG einer der Standorte des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).

Über die Stiftung EVZ

Auftrag der Stiftung EVZ ist es, die Erinnerung an das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung lebendig zu halten, die daraus erwachsende Verantwortung im Hier und Heute anzunehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Zentrales Motiv der Stiftungsgründung im Jahr 2000 war die Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter*innen des NS-Regimes – ein Meilenstein der deutschen Aufarbeitung. Heute fördert die Stiftung über ihre Handlungsfelder Bilden und Handeln Projekte und Aktivitäten, die den Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, der Völkerverständigung und der Stärkung von Menschenrechten dienen.