Die Welt gerechter machen


Autor*in: Silke Tornede

Chancengleichheit im Beruf, die Situation von Eltern oder Belästigungen im Alltag: Die Philosophin Christine Bratu ist mit ihrer Forschungsarbeit nah dran an der Lebensrealität vieler Frauen. Im Sommersemester übernimmt sie die Gender-Gastprofessur an der Universität Bielefeld – und möchte Studierende und Kolleg*innen für die analytische feministische Philosophie begeistern.

Was heißt es, eine Frau zu sein? Was bedeuten Geschlechterkategorien? Ist die Frauenquote gerecht oder eine Diskriminierung mit anderen Vorzeichen? Mit Leidenschaft geht Christine Bratu solchen Fragen auf den Grund. Seit 2020 lehrt die Philosophie-Professorin an der Universität Göttingen und macht deutlich: Das Nachdenken über Geschlechterfragen soll nicht nur spannende neue Erkenntnisse bringen, sondern die Welt auch ein bisschen besser und gerechter machen.

Die Philosophie-Professorin Christine Bratu lehnt lächelnd an einer bunten Wand, ihre Arme sind verschränkt.
Die Philosophie-Professorin Christine Bratu ist in diesem Sommersemester Gender-Gastprofessorin in Bielefeld. Am 6. Juli, 18 bis 20 Uhr, hält sie einen öffentlichen Vortrag zum Thema „Der 48-Stunden-Tag in Akademia“.

Konkret wird dieses Anliegen, wenn Christine Bratu den eigenen Hochschul-Kosmos und die Vereinbarkeit von akademischer Arbeit und Care-Arbeit in den Blick nimmt – ein Thema ihres öffentlichen Vortrags am 6. Juli in Bielefeld. „Akademisches Arbeiten ist entgrenzt“, sagt die 40-Jährige und formuliert überspitzt: „Wir machen es, weil wir es lieben. Und darum können wir es 24/7 machen.“ Zum hohen Arbeitspensum kommen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und extreme Konkurrenz im Wettrennen um die wenigen Professuren. Wer viel Zeit in die Forschung stecken kann, ist im Vorteil. Wer dagegen Sorgeverpflichtungen in der Familie übernimmt, bleibt schnell auf der Strecke. “Und das sind nach wie vor eher Frauen, weil von ihnen gesellschaftlich erwartet wird, dass sie sich um Angehörige kümmern“, sagt Bratu und fordert: Zeit darf kein Kriterium im Wettbewerb sein. „So werden Chancen ungleich verteilt und ein positives soziales Merkmal, sich um andere zu kümmern, wird zum Nachteil.“

Die Philosophie-Professorin Christine Bratu sitzt auf einer gelben Bank und arbeitet am Laptop.
Professorin Christine Bratu findet es wichtig, dass eine akademische Karriere auch mit Arbeitszeiten möglich ist, die ein Leben jenseits der Arbeit zulassen.

Das Jonglieren mit der eigenen Zeit, der Spagat zwischen Karriere und Kind, all das erlebt die Philosophin gerade hautnah selbst. Vor gut einem Jahr ist sie Mutter geworden und weiß, wie relevant Vereinbarkeit für Frauen und immer mehr Männer ist. „Allerdings habe ich eine Festanstellung und bin in einer ganz anderen Situation als viele Kolleg*innen mit unbefristeten Stellen.“ Offensiv weist sie darauf hin, dass sie in Teilzeit arbeitet. Dinge vorleben und zeigen, dass eine akademische Karriere mit reduzierter Stundenzahl oder in einer normalen Fünf-Tage-Woche möglich ist, auch das gehört zu ihrem feministischen Anspruch dazu.  

Die Bielefelder Professorin Michaela Rehm lehnt an einer Säule aus Beton in einem Flur im Gebäude X.
Die Bielefelder Professorin Michaela Rehm beobachtet in der analytischen Philosophie ein verstärktes Interesse an Geschlechterfragen. Die Gender-Gastprofessur soll das weiter fördern.

Vor diesem Hintergrund freut es die Bielefelder Professorin Michaela Rehm umso mehr, dass sie die Gender-Expertin für das Sommersemester gewinnen konnte. „Die Gastprofessur ist eine tolle Möglichkeit, Genderfragen im eigenen Fach zu verankern und selbstverständlicher zu machen“, erklärt sie, warum sie den Antrag in der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie gestellt hat. „In der analytischen Philosophie gibt es ein verstärktes Interesse an Geschlechterfragen“, beobachtet Rehm, die vor allem Studierende ermutigen möchte, sich mit diesem Bereich zu beschäftigen. „Das ist kein Nischenthema mehr.“ Dennoch sei es immer noch wichtig, Vorbilder zu haben.   

Für Christine Bratu, die Anfang der 2000-er Jahre ihr Studium in München begann, war die finnische Philosophin Mari Mikkola solch ein Vorbild. 2010 übernahm sie eine Juniorprofessur an der Humboldt Universität Berlin. „Das war eine Art Initialzündung für feministische Philosophie in Deutschland, die es ja schon seit den 1960-er Jahren gibt, aber die lange in der Schmuddelecke war“, erzählt Bratu. Fortan wurden Themen wie Pornographie oder die soziale Stellung von Frauen mit wissenschaftlich anerkannten Methoden beleuchtet, das machte die feministisch analytische Philosophie „hoffähig“, sagt Bratu und erinnert sich, wie sie diesen Wandel als Studentin erlebte: „Plötzlich wurden Themen angesprochen, die in meinem Leben relevant sind, und ich konnte das, was ich im Studium gelernt hatte, auf Sachen anwenden, die mir wichtig sind. Das ist Wow!“

Auf ihrem akademischen Weg sei es außerdem wertvoll gewesen, sich mit anderen Philosophinnen zu vernetzen und auszutauschen, sagt Bratu, die mittlerweile Vorstandsvorsitzende eines solchen Netzwerks ist, der Society for Women in Philosophy (SWIP) Germany. Denn bei allem Aufwind, den die Genderforschung erlebt: Es gibt noch viel zu tun, sagt Bratu. Darum sei es wichtig, Nachwuchs-Wissenschaftler*innen zu gewinnen und Mitstreiter*innen zu haben, die neue Themen und Fragen vorantreiben, um die Welt ein bisschen geschlechtergerechter zu machen.

Gender-Gastprofessur an der Universität Bielefeld

Die Gender-Gastprofessur ist eine „Wanderprofessur”. Seit 2012 können Fakultäten und Einrichtungen der Universität Bielefeld reihum Gastprofessorinnen für ein oder zwei Semester einladen, die Themen der Genderforschung in den jeweiligen Fachdisziplinen beleuchten. So sollen genderspezifische Inhalte im jeweiligen Fach selbstverständlicher werden sowie die Fachcommunity und Studierende dafür sensibilisiert werden. Nicht zuletzt soll die Sichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft gestärkt werden.

Weitere Informationen zur Gender-Gastprofessur hier.