Ein Anatomie-Gebäude entsteht


Autor*in: Jan Henning Rogge

Wer schon einmal ein Haus gebaut hat, weiß, dass Zeitpläne oft nicht viel mehr sind als Schall und Rauch. Wenn es aber gelingt, ein Bauprojekt mit einem gigantischen Volumen von mehr als 400 Millionen Euro, mit Gebäuden, die alles andere als alltäglich sind, nicht nur im Zeit-, sondern auch noch im Finanzrahmen zu halten, dann ist das schon etwas sehr Besonderes. An der Universität Bielefeld kann man einem solchen Projekt beim Wachsen zuschauen: Seit September 2020 entsteht für die Medizinische Fakultät der Campus Süd, seit dem Wintersemester 2021/22 im laufenden Betrieb. Die ersten 60 Studierenden sind da. Sie erleben den Aufbau ihrer Fakultät direkt mit.


Die Baumaßnahmen sind auch deshalb außergewöhnlich, weil hier Gebäude entstehen, an die besondere Anforderungen gestellt werden. Nur wenige Architekt*innen, Planer*innen und Baufirmen haben sich vermutlich zuvor bereits damit beschäftigt, ein Gebäude umzusetzen, in dem Tierforschung betrieben werden soll – oder ein Lehrgebäude für Anatomie, in dem Körperspenden vorbereitet und sicher gelagert werden müssen. Nicht nur die Planer*innen, sondern auch die künftigen Nutzer*innen sind deshalb beteiligt. „Ein solches Gebäude kann nur gemeinsam mit allen Beteiligten geplant und gebaut werden“, erklärt Sara Belghenou, Projektreferentin Baumaßnahmen Medizinische Fakultät. „Die Beteiligten waren von Anfang und damit sehr frühzeitig involviert.“

Das Gebäude R2 mit Baucontainern und Paletten mit Baumaterial davor.
Im Gebäude R2 werden künftig neben Büroräumen auch zahlreiche Labore zu finden sein. Unter anderem: die Anatomie.

Einer der zukünftigen Nutzer ist Professor Dr. med. Björn Spittau, Professor für Anatomie und Zellbiologie. Er ist seit dem Beginn der Planungen für das neue Anatomiegebäude involviert. Und auch, wenn solche komplexen Baumaßnahmen in Deutschland höchst selten entstehen – für Spittau ist es bereits das zweite Planungsverfahren. „Ich habe tatsächlich genau so was schon mal gemacht, in meiner Zeit in Freiburg. Da wurde auch ein Institutsneubau geplant, der allerdings noch nicht fertig ist“, sagt der Mediziner. Auf diese Erfahrungen kann er nun aufbauen. „Hier passiert das jetzt natürlich mit einem engeren Zeitrahmen, es ist alles schon viel konkreter – und wir werden hoffentlich auch früher fertig als die Kolleg*innen in Freiburg.“

Doch bevor es überhaupt zu konkreten Entscheidungen kommen konnte, wie das Gebäude schließlich aussehen würde, musste eine grundsätzliche Frage geklärt werden: Will man in Bielefeld mit echten menschlichen Körpern unterrichten oder will man das nicht? „Es gibt Standorte in Deutschland, die das nicht machen“, sagt Spittau. „Ich war immer ein Verfechter dafür, Anatomie mit echten menschlichen Körpern zu unterrichten, weil es einfach nichts gibt, was diese Körper als Lehrmittel ersetzt, kein Buch, kein Computerprogramm, keine Videoanimation kann das. Glücklicherweise war es auch nie wirklich ein Thema, das in Bielefeld nicht zu machen. Und damit war klar, in welche Richtung das Gebäude konzipiert werden muss.“

Prof. Björn Spittau am Laptop
Prof. Björn Spittau wurde als erster Professor an die neu gegründete Medizinische Fakultät OWL berufen.

Nicht nur Spittau bringt seine Erfahrungen aus der Praxis ein. Mit ihm ist von der Universität Rostock, wo er vorher eine Professur innehatte, Dr. Marko Schulze als neuer Prosektor nach Bielefeld gekommen. „Der sogenannte Prosektor ist in der Anatomie derjenige, der das Leichenwesen organisiert und das quasi eigenverantwortlich steuert.“ Über 10 Jahre hatte Schulze diese Position an der Universität Rostock inne. „Er ist ein Mann mit sehr viel Erfahrung auf diesem speziellen Gebiet, spielt natürlich jetzt diese Erfahrung gewinnbringend aus und ist maßgeblich an der erfolgreichen Planung des neuen Gebäudes beteiligt.“

Sehr spezielle Anforderungen werden an die Ausstattung in der Anatomie gestellt: Die Körper, die von Spender*innen stammen, müssen aufwändig vorbereitet werden – dafür braucht es viel Platz und technische Ausstattung. Natürlich müssen die Körper gekühlt werden, bevor sie in der Regel mit Formalin – einer Formaldehyd-Lösung – für die studentische Ausbildung haltbar gemacht werden. Dieses Verfahren braucht mehrere Monate Zeit; entsprechend langfristig müssen die Körperspenden gelagert werden. Auch auf andere Möglichkeiten der Konservierung, die die Anwendung mit dem Formaldehyd vielleicht einmal ersetzen können, wird das neue Gebäude vorbereitet.

Innovativ ist die Lagerung der Körper. „Pro Jahr brauchen wir so etwa 40 Körper, was bedeutet, dass wir entsprechend Platz für diese Körper benötigen.“ Die Aufbewahrung erfolgt in speziellen Wannen, die übereinander in einer Art Fahrstuhl gelagert werden. Die benötigte Körperspende kann dann ausgewählt werden und wird über das System bereitgestellt. „So etwas wurde bisher nur in Münster verbaut, als dort die Anatomie saniert wurde“, sagt Spittau.

Auch andere Einrichtungen des neuen Gebäudes werden eher exotisch sein. „Wir werden ein sogenanntes „OP-Theater“ mit einer kleinen Stehtribüne haben, wo die Patholog*innen und Anatom*innen Sektionen durchführen können, die man dann im Rahmen des Medizinstudiums live anschauen kann. Vielleicht nicht so klassisch, wie man das aus den alten Arztserien oder Filmen kennt, sondern ein bisschen moderner“, erzählt der Mediziner. „Das ist etwas, das es nicht überall gibt.“

Doch nicht nur die Arbeit mit den Körpern bestimmt den Aufbau des Gebäudes. Besondere Vorkehrungen sind auch wegen der Formalin-Dämpfe notwendig, denn die sind gesundheitsgefährdend – spezielle Lüftungsanlagen sind also Bedingung.  „Das ist ein Bereich, mit dem viele ältere Anatomiegebäude Probleme haben, da die Grenzwerte inzwischen sehr niedrig sind. Da wir das von Anfang an neu planen können, werden wir da keine Probleme bekommen“, sagt Spittau.

Nicht nur Medizin-Student*innen werden das neue Gebäude nutzen, es ist auch geplant, Weiterbildungsveranstaltungen für bereits ausgebildete Fachärzt*innen anzubieten. „Das ist auch ein ganz großer Baustein in der Anatomie. Es gibt immer wieder neue Operationstechniken und Entwicklungen in operativen Fächern, die man erlernen und weiterentwickeln muss, bevor diese dann tatsächlich Routine im klinischen Alltag werden.“

Ein besonderes Anliegen ist dem Professor der Umgang mit den Körpern: „Es ist mir wichtig, dass wir die Leute sensibilisieren, damit ihnen immer bewusst ist: Das ist ein echter menschlicher Körper, ein Mensch, der sich euch freiwillig gespendet hat.“ Ein Baustein dieser besonderen Wertschätzung könnte zum Beispiel eine von Studierenden organisierte Gedenkfeier sein. „Wenn so ein Körper bei uns präpariert worden ist und von den Studierenden bearbeitet wurde, wird er ja klassisch beigesetzt, nur zeitlich verzögert. Eine Gedenkfeier, zu der auch die Angehörigen der Körperspender*innen eingeladen werden, ist dann für die Studierenden auch nochmal eine Chance, Danke zu sagen.“ Solche Feiern sind dort, wo Spittau bislang lehrte, zuletzt in Rostock, immer sehr gut aufgenommen worden. „Die Angehörigen fanden es toll, dass Studierende so etwas machen und auf diesem Weg ihre Dankbarkeit zeigen.“

Wie so etwas in Bielefeld aussehen könnte, ist noch unklar. Erste Kontakte bestehen zur Hochschulgemeinde und zur evangelischen und katholischen Kirche. „Das dauert aber alles noch“, sagt der Mediziner. Der Nebeneffekt einer solchen Aktion: „Das spricht sich natürlich herum, in der Regel berichtet auch die Presse darüber – und das ist in puncto Öffentlichkeitsarbeit, oder um für Körperspenden zu werben, immer sehr hilfreich.“

Zunächst aber muss das Gebäude aber fertig sein und in Betrieb gehen. Dann wird es aber wohl eines der modernsten Anatomiegebäude in der ganzen Bundesrepublik sein.

© Universität Bielefeld

„Die Umsetzung des Standortkonzepts Campus Süd mit insgesamt acht Neu- und Umbauten ist eine fantastische Chance für die Universität Bielefeld und gleichzeitig aufgrund der Rahmenbedingungen eine große Herausforderung. Der aktuelle Entwicklungsstand bei den Bauprojekten ist im Zeitplan – eine enorme Leistung aller Beteiligten.“

Kanzler Dr. Stephan Becker

Die Baumaßnahmen auf dem Campus Süd

  • Insgesamt acht Gebäude bilden südlich des Universitätshauptgebäudes zwischen Werther Straße und Morgenbreede/Konsequenz die neue Medizinischen Fakultät OWL.
  • Nicht alles wird neu gebaut, auch bestehende Gebäude werden umgebaut.
  • Aktuell befinden sich alle Gebäude sowohl in der Planung als auch im Bau im vorgesehenen Zeitplan.
  • 2026 sollen alle Gebäude fertig sein, dann läuft die Fakultät unter Volllast.
  • Die Investitionssumme wird derzeit auf rund 470 Millionen Euro geschätzt.