Zwei Hände in Baumwollhandschuhen heben vorsichtig einen handbeschriebenen Zettel aus dem Kasten.

Der digitale Zettelkasten


Autor*in: Jan Henning Rogge

Es gibt nicht viele geisteswissenschaftliche Langzeit-Forschungsprojekte, die mit einem Millionenbetrag gefördert werden. Eines davon ist an der Universität Bielefeld verortet. Sein Kernstück: Niklas Luhmanns sagenumwobener Zettelkasten, von dem der Soziologe selbst behauptete, nicht er, sondern der Kasten würde die vielen Bücher produzieren, die er publizierte. Ein Mythos, mit dem Luhmann gerne kokettiert habe, glaubt der Soziologe Johannes Schmidt, der wissenschaftliche Koordinator des Projektes. Und wer nun hofft, mit dem originalen Zettelkasten ebenfalls im großen Stile publizieren zu können, wird wohl enttäuscht werden.

 

Der Zettelkasten

Um Niklas Luhmanns Zettelkasten wurde schon zu seinen Lebzeiten einiger Wirbel gemacht. Er selbst bezeichnete den Kasten als sein „Denkwerkzeug“ oder auch „Zweitgedächtnis“. Als die Universität Bielefeld den Nachlass 2010 nach langen Erbstreitigkeiten innerhalb der Familie erwarb, galt er neben vielen unveröffentlichten Manuskripten als das Sahnestück. Möglich machte den Kauf die Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Aus eigenen Mitteln wurde dann zunächst die Anforschung finanziert, seit 2015 läuft nun das Forschungsprojekt.

 

Der Zettelkasten mit vier geöffneten Schubfächern.
 
Um Niklas Luhmanns Zettelkasten ranken sich viele Geschichten, die der Soziologe zum Teil selbst genährt hat. Wer ihn zu sehen bekommt, mag das kaum glauben. „Die äußere Form ist ernüchternd“, sagt Forscher Johannes Schmidt.

Der Zettelkasten ist fast genau das, was der Name verspricht: Zwar nicht einer, dafür immerhin mehrere Kästen aus Holz. „Die äußere Form ist ernüchternd. Als ich den Kasten bei der Anforschung 2012 zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gedacht, das kann es nicht sein, das ist jetzt ein schlechter Witz“, erinnert sich Projektkoordinator Schmidt.

Auf klassische Karteikarten verzichtete Luhmann – er benutzte lieber Papier, weil es dünner ist und so mehr in die Auszüge passt. „Meist schon benutztes“, sagt Schmidt. Und so finden sich auf den Rückseiten allerlei profane Fragmente aus Luhmanns Leben: Zeichnungen seiner Kinder oder Rechnungen aus dem elterlichen Brauereibetrieb wurden zu Notizzetteln. „Es gab fast nichts, was er nicht zu Zetteln verarbeitet hätte.“

 

 

„Der Kasten ist untrennbar mit dem Geist Luhmanns verknüpft.“

Johannes Schmidt

Gut 90.000 einzelne Objekte umfassen die Kästen heute, zu Luhmanns Lebzeiten kamen ständig neue hinzu, wodurch sich ihre Positionen immer wieder veränderten. Wie der Kasten faktisch wuchs, lässt sich übrigens ebenfalls nachvollziehen: „Er hat die Kästen immer wieder nachgekauft. Immer wieder finden wir Rechnungen über einzelne Karteikästen, die er ebenfalls zu Notizzetteln verarbeitet hat.“

Der Kasten beinhaltet zwei große, in sich abgeschlossene Sammlungen: Zettelkasten 1 mit insgesamt etwa 23.000 Zetteln in sieben Auszügen entstand im Zeitraum von etwa 1952 bis 1962, Zettelkasten 2 enthält Notizen aus dem Zeitraum von 1962 bis Anfang 1997, insgesamt rund 67.000 Zettel in zwanzig Auszügen.

 

Ein Mann, Niklas Luhmann, steht an einem Zettelkasten und hält darin einen Zettel fest, den er zu lesen scheint.
 
Der Zettelkasten stand in Luhmanns Arbeitszimmer in seinem Privathaus in Oerlinghausen. Akribisch „verzettelte“ er regelmäßig die Notizen, die er sich zum Beispiel beim Lesen tagsüber in der Universität gemacht hatte.

Die Arbeit mit dem Zettelkasten

Seine Arbeitsweise erklärte Luhmann selbst unter anderem in einem Beitrag für die WDR-Sendung „Philosophie Heute“ von 1989. Hier demonstrierte er, wie er akribisch die Lektüre eines Aufsatzes nachbereitet, den er tagsüber in der Universität gelesen hatte: Die Gedanken, die er sich beim Lesen gemacht hatte, verarbeitete er abends zuhause zu einzelnen Zetteln, die er dann in das System Zettelkasten einfließen ließ. Dabei war genaues Arbeiten für das Funktionieren des Kastens essenziell: „Wenn die mal verloren sind, sind sie nur durch Zufall wieder zu entdecken“, sagte Luhmann über seine Zettel.

In seinem Text „Kommunikation mit Zettelkasten“, erklärt Luhmann, wie er seinem Kasten ein „Eigenleben“ anerzogen hat. „Für das Innere des Zettelkastens, für das Arrangement der Notizen, für sein geistiges Leben ist entscheidend, dass man sich gegen eine systematische Ordnung nach Themen und Unterthemen und stattdessen für eine feste Stellordnung entscheidet. Ein inhaltliches System (nach Art einer Buchgliederung) würde bedeuten, dass man sich ein für alle Mal (für Jahrzehnte im Voraus!) auf eine bestimmte Sequenz festlegt“, erklärt er.

Wissenschaftler Schmidt erklärt das Prinzip: „Jeder Zettel kommt an die Stelle, an die er an einen bereits notierten Gedanken thematisch anschließt. Das hat Luhmann aufgrund des Arbeitszusammenhangs entschieden, an dem er gerade war. Auch wenn ein Zettel thematisch dann woanders hinführt, kommt er hinter den Zettel, an dem Luhmann thematisch gerade vorher gearbeitet hat. Das ist also ein rein lokales und kein globales Anschlussprinzip.“

 

So kann es sein, dass ein Zettel einem ganz anderen Gedanken folgt als der, der ihm vorausgeht, da er sich auf einen Seitenaspekt des ursprünglichen Zettels konzentriert und sich daran dann eine ganze Folge weiterer Zettel anschließen, die von dem ursprünglichen Gedanken immer weiter wegführen. Mit diesem Verfahren machte Luhmann mehr aus dem Kasten als ein Ablagesystem für Gedankengänge: „Für Kommunikation ist eine der elementaren Voraussetzungen, dass die Partner sich wechselseitig überraschen können“, schrieb Luhmann.

Durchlaufende Nummern bilden die Struktur des Systems. „Jeder Zettel bekommt eine Nummer und damit einen Standort, der nicht mehr verändert wird.“ Werden Zettel eingefügt, tragen sie entsprechende Erweiterungen – Luhmann arbeitete hier mit Zahlen und Buchstaben, die er abwechselte. Über dieses System ermöglichte er dann den zweiten wichtigen Faktor des Kastens: „Erst die Vernetzung der Zettel untereinander macht den Zettelkasten zu einem Überraschungsgenerator“, erklärt Schmidt. „Das hat Luhmann auch regelmäßig gemacht, viele Bestände wurden ständig reaktualisiert, indem sie mit neu eingestellten Zetteln verknüpft wurden, sodass auch die alten Bestände aktuell waren. Das hat den Kasten erst operationsfähig gemacht.“

Eine Technik, die heute im großen Stil eingesetzt wird: Das Verlinken von Internetseiten ist ein Standardverfahren. Luhmann hingegen „verlinkte“ von Hand – etwa 20.000 Verweise enthält der ältere Zettelkasten, rund 30.000 sind es im neueren.

Das Forschungsprojekt

Ein geisteswissenschaftliches Forschungsprojekt, das auf 15 Jahre angelegt ist, hat Seltenheit. Doch als die Universität 2010 den umfangreichen wissenschaftlichen Nachlass Luhmanns erwerben konnte, war klar, dass es mit dem reinen Kauf nicht getan sein würde: Der Nachlass soll als geistesgeschichtliches Dokument der wissenschaftlichen Forschung sowie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Besonders groß ist das Interesse am Zettelkasten. Doch so sehr sich seine Inhalte für eine Online-Veröffentlichung auch eignen – schließlich lassen sich die Verweise, die Luhmann selbst eingearbeitet hat, durch Verlinkungen besonders gut darstellen, so mühselig ist die Arbeit, ein solches System zu digitalisieren. Dabei handelt es sich bei dem Forschungsprojekt durchaus um ein Referenzobjekt im Bereich der digitalen Edition, das von Anfang an digital ausgerichtet war: „Es ist nicht so, dass es den digitalen Zettelkasten gibt und die Print-Edition für die Manuskripte“, erklärt Schmidt. „Die Printedition machen wir auch, dabei handelt es sich aber um reine Lesetexte. Die textgenetische Komponente kommt dann in der digitalen Fassung der Edition zum Tragen, hier verbinden wir dann Zettelkasten und Manuskripte. Das ist etwas, das uns im Augenblick einzigartig macht.“

Die Bielefelder Fakultät für Soziologie kooperiert dabei mit dem Archiv und der Bibliothek der Universität Bielefeld sowie dem Cologne Center for eHumanities (CCeH) der Universität zu Köln (2015-2019) und den Digital Humanities der Bergischen Universität Wuppertal. Gefördert wird das Projekt durch die Akademie der Wissenschaften und der Künste Nordrhein-Westfalen mit gut fünf Millionen Euro. Die Leitung hat Professor Dr. André Kieserling, Anfang der 1990er Jahre der letzte Assistent Luhmanns, seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie – der Luhmann-Lehrstuhl.

Die praktische Arbeit ist eine Fleißarbeit: Während das Einscannen noch relativ problemlos funktionierte und bereits 2017 abgeschlossen war, ist nun menschliches Wissen von Nöten. Durch das Einscannen liegen die Zettel zwar als Bilder vor, der Text ist dadurch aber nicht erfasst. Jeder eingescannte Zettel wird abgeschrieben, Quellen und Verweise müssen verlinkt werden. „Der eigentliche Aufwand ist gar nicht das Abschreiben“, sagt der Projektkoordinator. „Die eigentliche Arbeit ist das Auszeichnen: Die Links und Literatur müssen ausgezeichnet werden, es muss kontrolliert werden, ob die Zettelnummern stimmen, manchmal hat sich auch Luhmann verschrieben, die Literatur muss häufig nachrecherchiert werden.“ Etwa fünf Zettel schafft ein Mitarbeiter in der Stunde.

Einige Tätigkeiten können von Hilfskräften erledigt werden, geht es an die Inhalte ist Fachwissen gefragt. „Man muss natürlich einen gewissen Überblick über das Gesamtwerk haben“, sagt Schmidt. In mühevoller Arbeit wurden bislang drei Auszüge digitalisiert und bearbeitet. Nach dem Start des Onlineportals niklas-luhmann-archiv.de im Jahr 2019 stehen inzwischen drei von insgesamt 27 Auszügen online bereit, der vierte Auszug ist Ende März veröffentlicht worden. „Etwa alle halbe Jahre bekommen wir einen Auszug ediert, das sind ungefähr 3000 bis 3500 Zettel. Anfang 2023 wird dann der erste Kasten mit seinen sieben Auszügen komplett im Netz stehen.“

Neben dem Zettelkasten werden auch Manuskripte, Korrespondenz und andere Dokumente aus dem Nachlass gesichtet, erfasst und bearbeitet. Eine kritische Edition soll dann den Luhmann’schen Nachlass als geistesgeschichtliches Dokument der wissenschaftlichen Forschung sowie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Ende Oktober 2021 ist im Suhrkamp-Verlag das Buch „Die Grenzen der Verwaltung“ erschienen, ein Text aus den 1960er Jahren, Ende Dezember bei de Gruyter der Band „Differenz – Kopplung – Reflexion“, der Aufsätze aus den 1980er und 1990er Jahren versammelt.

 

Niklas Luhmann (1927-1998) ist einer der wirkmächtigsten deutschen Soziologen des 20. Jahrhunderts. In einer nahezu vierzigjähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit entwickelte er auf der Basis der philosophischen Tradition einerseits und der Rezeption unterschiedlichster Konzepte der modernen Wissenschaften andererseits eine funktionalistisch orientierte Systemtheorie, die von sich beansprucht, alle sozialen Phänomene in einer theorieeinheitlichen Sprache beschreiben zu können. Soziale Systeme werden als Kommunikationszusammenhänge verstanden, die gegenüber den an ihnen beteiligten Akteuren eine Autonomie aufweisen. Auf dieser Basis können drei Typen sozialer Systeme unterschieden werden: Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Die auf dieser allgemeinen Theorie aufsitzende Gesellschaftstheorie beschreibt die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft, die durch eine interne Differenzierung in verschiedene Funktionsbereiche wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst gekennzeichnet ist, deren Operieren nicht mehr zentral koordiniert werden kann.

Teile dieses Artikels wurden im NACHSCHLAG, der Zeitung des Absolventen-Netzwerks der Universität Bielefeld e.V. erstmals veröffentlicht. Mitglieder des Vereins erhalten diese Zeitung zweimal im Jahr exklusiv. Weitere Informationen: www.uni-bielefeld.de/alumni