Mit KI Stromerzeugung und -verbrauch regeln


Autor*in: Universität Bielefeld

Immer mehr Photovoltaik-Anlagen auf Hausdächern, immer mehr E-Autos an Steckdosen: Das belastet das Stromnetz durch Schwankungen in Erzeugung und Verbrauch. Wie lassen sich diese Schwankungen lokal ausgleichen? Das untersuchen Wissenschaftler*innen in dem Forschungsprojekt AI4DG. Die Idee: Mit verteilter KI soll die Stromversorgung zuverlässig und autonom gesteuert werden. Die Universität Bielefeld leitet den neuen Forschungsverbund. Projektkoordinator ist Professor Dr.-Ing. Ulrich Rückert vom Institut CITEC der Universität. Kooperationspartner sind die Fachhochschule Bielefeld, die Université Grenoble Alpes (Frankreich) und die Industriepartner Westfalen Weser Netz sowie Atos Worldgrid (Frankreich). Mit rund einer Million Euro wird die Forschungskooperation insgesamt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Auf dem Dach der Fachhochschule Bielefeld glitzern und strahlen sie so in der Sonne, dass man den Modulen der Photovoltaikanlage (PV) bei der Stromerzeugung förmlich zugucken kann. „Leider scheint die Sonne nicht immer so schön“, sagt Katrin Schulte bedauernd. Damit benennt die Spezialistin für Stromnetze von der Fachhochschule Bielefeld eine der beiden Herausforderungen, vor der Netzbetreiber beim Ausbau der dezentralen erneuerbaren Energieerzeugung stehen: Anders als konventionelle Kraftwerke erzeugt eine PV-Anlage keine konstante und planbare Leistung. „Wetterabhängige oder auch volatile Stromerzeugung nennen wir das“, erklärt Schulte. Die so erzeugte Leistung wird dann in das Niederspannungsnetz eingespeist, an dem auch die privaten Haushalte angeschlossen sind. Die allerdings benötigen immer öfter eine große Leistung, etwa wenn ein E-Auto aufgeladen wird. „Das ist“, so Schulte, „die andere große Herausforderung!“

Katrin Schulte und Timon Jungh vor einer Photovoltaikanlage, die je nach Wetterlage eine unterschiedliche Menge Energie erzeugt. Mit Künstlicher Intelligenz wollen die beiden die Einspeisung in das Stromnetz steuern. Foto: Patrick Pollmeier

Eine dezentral arbeitende KI zur Steuerung des Stromnetzes

Die Energieerzeugung durch viele kleine Anlagen und der Verbrauch im Niederspannungsbereich werden also künftig steigen und gleichzeitig stärker schwanken. „Das Netz sicher zu steuern, wird durch die Ausgangslage zu einer komplexen und immer schwieriger werdenden Aufgabe “, beschreibt Katrin Schulte das Problem. Deshalb hat die 26-Jährige ein internationales Forschungsprojekt mit auf den Weg gebracht, in dem ein vielversprechender Ansatz zur Lösung ausgearbeitet werden soll: verteilte, also dezentral arbeitende, Künstliche Intelligenz (KI) zur Steuerung des Stromnetzes. Oder wie es im Projekttitel auf Englisch heißt: „AI on the edge for a secure and autonomous distribution grid control with a high share of renewable energies (AI4DG)“.

Universität Bielefeld und Grenoble, Atos Worldgrid und Westfalen Weser Netz mit an Bord

Im Oktober haben die beteiligten Wissenschaftler*innen mit der Arbeit begonnen. Katrin Schulte ist als Doktorandin für die Fachhochschule mit dabei. Das Vorhaben baut auf ihrer bisherigen Forschung auf: Nach ihrem Bachelor in Regenerative Energien an der Fachhochschule Bielefeld hatte sich die 26-Jährige im Master Elektrotechnik vertieft mit intelligenten Energiesystemen auseinandergesetzt. Seit Anfang 2020 forscht sie als wissenschaftliche Fachhochschul-Mitarbeiterin in Projekten zur Gestaltung der Energiewende am Institut für Technische Energie-Systeme (ITES) in der Arbeitsgruppe Netze und Energiesysteme (AGNES) unter der Leitung von Professor Dr.-Ing. Jens Haubrock.

Haubrock betreut als Initiator und Projektleiter AI4DG, in dem die Partner mit verschiedenen Schwerpunkten digital vernetzt zusammenarbeiten. Während von der Fachhochschule Bielefeld Idee, Initiative und Stromnetz-Expertise kommen, steuert die Université Grenoble Alpes das Know-how zur KI bei. Die Universität Bielefeld kümmert sich um den dezentral verteilten Einsatz der KI, um das sogenannte Edge Computing. Die Industriepartner Atos Worldgrid aus Frankreich und der Bereich „Innovation – Intelligente Netztechnik“ von Westfalen Weser Netz aus Deutschland helfen schließlich bei der Umsetzung im Feld.

Timon Jungh arbeitet an dem Projekt am sogenannten Edge Computing, also daran, wie Künstliche Intelligenz dezentral zur Steuerung des Stromnetzes eingesetzt wird. Foto: Patrick Pollmeier

Edge Computing: Erzeugungs- und Verbrauchsdaten werden dezentral verarbeitet und analysiert

KI wird heute zwar schon in Ansätzen zur Steuerung der Stromversorgung erforscht. Aber das Bielefelder Forschungsteam und seine französischen Kolleg*innen gehen noch weiter und verknüpfen die KI mit Edge Computing. „Edge Computing bedeutet, dass die Daten nicht zentral in der Cloud verarbeitet werden, sondern dezentral genau dort, wo sie erzeugt werden“, erklärt Timon Jungh von der Universität Bielefeld. Der Biomechatroniker (MA) forscht in der Arbeitsgruppe von Professor Dr.-Ing. Ulrich Rückert am CITEC (Center for Cognitive Interaction Technology) und promoviert ebenfalls im Projekt. „Das ist eine echte Innovation“, betont Katrin Schulte. „Wir erhöhen damit die Sicherheit und den Datenschutz, denn Stromversorgung gehört zur kritischen Infrastruktur und muss gewährleistet sein.“ Wenn eine dezentrale KI-Einheit ausfällt, kann eine andere sofort die Kontrolle übernehmen. Und wenn die Daten nicht verschickt werden müssen, können sie unterwegs nicht verloren gehen oder gehackt werden. Und es gibt noch einen Vorteil der dezentralen Herangehensweise: „Die Daten können vor Ort mit geringerer Verzögerung verarbeitet werden“, so Timon Jungh.

Bessere Prognosen können erstellt werden – Versorgung wird zuverlässiger

Vor Ort – das ist beispielsweise in Herford: Ein großer grauer Kasten mit breiten Lüftungsschlitzen steht in einem Wohngebiet am Straßenrand. An der Seite prangt ein gelber Aufkleber mit schwarzem Blitz: eine Ortsnetzstation. In ihr wird ankommende Mittelspannung in Niederspannung transformiert, mit der dann die umliegenden Häuser versorgt werden. Marco Sawatzki öffnet die Station. Zum Vorschein kommen Kabel, Schalter, Zähler, ein Messfeld. Sawatzki schließt seinen Laptop an. „Jetzt kann man sehen, wie viel Strom aktuell von den Haushalten verbraucht wird. Eingespeist wird momentan offenbar nichts“, erläutert der Mitarbeiter der Westfalen Weser Netz, dem Industriepartner auf deutscher Seite im Projekt.

AI4DG sieht vor, dass genau an dieser Stelle, direkt in der Ortsnetzstation, KI die Messdaten verarbeitet. „Wir setzten die Analysen der KI dann beispielsweise für Prognosen ein. Sie sollen den Verbrauch von einzelnen Haushalten vorhersagen oder die von PVs erzeugte Leistung“, erklärt Katrin Schulte. Je nachdem lassen sich dann die Batterien in den Haushalten mit PVs netzdienlich steuern und die erzeugte Energie entweder speichern oder in das Netz einspeisen, sodass immer eine gleichbleibende Spannung vorhanden und die Stromversorgung gesichert ist sowie Überlastungen im Netz vermieden werden.

Vom Labor, über das Feld bis hin zum marktfähigen Produkt

Bevor es soweit ist, entwickeln und optimieren Schulte und ihre Mitstreiter*innen ihr Steuerungssystem allerdings zunächst am Computer und im Labor: Mit einer speziellen Software wird als Simulation ein Stromnetz aufgebaut, die realen Daten dafür liefert Westfalen Weser Netz. „Das ist unsere Spielwiese, hier probieren wir unsere selbst programmierten Algorithmen aus“, sagt Katrin Schulte. Bestehen sie die Tests, geht es ins Netz-Simulationslabor Smart Energy Applications (SEAp). Hier fließen echte Ströme, und das Steuerungssystem wird mit Hilfe verschiedener Hardware-Komponenten wie Batteriespeicher und elektronischen Lasten validiert. „Erst dann überprüfen wir unser System in einem Feldversuch im echten Stromnetz zusammen mit Westfalen Weser Netz. Und wenn es gut funktioniert, können die Industriepartner unser System zu einem marktfähigen Produkt weiterentwickeln.“

Marco Sawatzki von Westfalen Weser Netz überprüft an einer Ortsnetzstation, wie die aktuelle Netzlast der umliegenden Haushalte ist. Foto: Patrick Pollmeier

Kooperation mit Frankreich – europaweiter Nutzen angestrebt

Möglicherweise auch für den europaweiten Einsatz: AI4DG ist ein internationales Forschungsprojekt. Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wird der Verbund im Rahmen des Programms für deutsch-französische Projekte zum Thema Künstliche Intelligenz mit rund 500.000 Euro gefördert – davon gehen wiederum rund 200.000 Euro an die Universität Bielefeld. Das Gesamtvolumen des Projekts liegt bei rund einer Million Euro. Professor Haubrock hat den Kontakt zu den französischen Partnern hergestellt und freut sich über die internationale Zusammenarbeit: „Durch die Kooperation mit Frankreich können verschiedene Verteilnetzstrukturen für eine Übertragbarkeit der KI-Methoden auf das europäische Energiesystem betrachtet werden. Das wird die etablierten, nationalen KI-Strategien bereichern.“