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Religiöse Stile wandeln sich im Erwachsenenalter


Autor*in: Jörg Heeren

Die religiös-weltanschauliche Entwicklung steht im Mittelpunkt eines internationalen Langzeitprojekts der Universität Bielefeld und der University of Tennessee at Chattanooga, USA. Die Forschenden unterscheiden vier Stile, die anzeigen, wie Glaube, Spiritualität und Weltanschauung das eigene Leben prägen. In einer neuen Längsschnittstudie weisen die Wissenschaftler*innen erstmals nach, dass und wie sich diese Stile über die Lebensspanne von Erwachsenen tatsächlich wandeln. Sie ermittelten zudem Faktoren, mit denen sich diese Entwicklung vorhersagen lässt. Jetzt wurde bekanntgegeben, dass der Forschungsverbund ab Januar 2022 weiter gefördert wird, und zwar mit 1,2 Millionen Euro. 

Das internationale Projekt wird seit 2002 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Seit 2014 engagiert sich die John Templeton Foundation (USA) als weitere Drittmittelgeberin. Beide Drittmittelgeberinnen haben jetzt die gemeinsame Finanzierung einer weiteren Projektphase von 2022 bis 2024 bewilligt.

Mit ihren Studien können die Forschenden des Projekts dokumentieren, dass Menschen im Laufe ihres Lebens ihre religiösen Ansichten und ihre Weltanschauung wechseln. Mit ihren Erhebungen schaffen sie eine umfassende Datenbasis, um zu analysieren, wie sich Glaube entwickelt. „Die Forschung zu religiös-weltanschaulichen Stilen orientierte sich bisher eher an theoretischen und teilweise spekulativen Annahmen“, sagt Professor Dr. Heinz Streib von der Forschungsstelle Biographische Religionsforschung der Universität Bielefeld. Der Theologe und Religionspsychologe leitet das Verbundprojekt gemeinsam mit dem Psychologieprofessor Ralph W. Hood PhD von der University of Tennessee at Chattanooga.

Bild der Person: Prof. Dr. Heinz Streib Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie / Abteilung Theologie / Sekretariat Abteilung Theologie, Praktische Theologie/Religionspädagogik Forschungsstelle interdisziplinäre Religionsforschung / Biographische Religionsforschung
Prof. Dr. Heinz Streib von der Abtei-lung für Theologie der Universität Bielefeld leitet das deutsche Teil-projekt der Forschungskooperation zu religiöser Entwicklung. Foto: Universität Bielefeld

„Lange Zeit wurde außerdem davon ausgegangen, dass die Festlegung auf die eigene Glaubensvorstellung mit dem Abschied vom Kinderglauben und dem Übergang ins Erwachsenenalter weitgehend abgeschlossen ist“, sagt Streib. „In unseren Analysen der vergangenen Jahre können wir dokumentieren: Auch Menschen im Erwachsenenalter wechseln ihren religiösen Stil“.

In dem Projekt arbeiten Wissenschaftler*innen aus Psychologie, Theologie, Soziologie und Linguistik. Zu dem Bielefelder Projektteam gehören unter anderem die Psychologin und Psychoanalytikerin Dr. Barbara Keller, die Linguistin Dr. Ramona Bullik und die Soziologin Anika Steppacher.

Daten zu religiös-weltanschaulicher Entwicklung aus zwei Jahrzehnten

Befragt werden Erwachsene aller Altersgruppen mit unterschiedlichsten religiösen, spirituellen oder anderen – zum Beispiel atheistisch-humanistischen – Orientierungen. Als Methoden nutzen die Forschenden Onlinefragebögen und Leitfadeninterviews. Per Fragebogen werden etwa Dimensionen der Persönlichkeit, mystische Erfahrungen wie auch psychologisches Wohlbefinden und Wachstum erhoben. Das Projekt setzt das Leitfragen-Interview zu religiöser Entwicklung (Faith-Development-Interview) ein, entwickelt von dem US-amerikanischen Theologieprofessor James Fowler. Damit wird nach der Lebensgeschichte, nach Beziehungen, Werten und Religiosität beziehungsweise Weltanschauung gefragt. Die Interviews durchlaufen eine narrative Analyse und eine Inhaltsanalyse, auch werden sie nach religiösen Stilen ausgewertet. Die Forscher*innen haben eine große Zahl an Fallstudien erarbeitet und publiziert, unter anderem im jüngst erschienenen Buch „Deconversion Revisited“.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben mehrere tausend Studienteilnehmende den Fragebogen beantwortet. Projektmitarbeiter*innen haben mit mehr als 1.000 Menschen in Deutschland und den USA ein Faith-Development-Interview geführt. Von ihnen haben 250 Menschen an einem Folgeinterview teilgenommen, von 75 Teilnehmer*innen liegen sogar drei Interviews vor. Diese beiden Gruppen der Interviewten sind für die Langzeitstudie derzeit besonders bedeutsam. Denn wenn Menschen über mehrere Jahre wiederholt befragt werden, können ihre individuellen Glaubenswege dokumentiert werden. In der neuen Projektphase soll die Gruppe der Interviewten um mehrere Hundert Personen erweitert werden, die jeweils zur Hälfte aus Deutschland und den USA kommen.

Analyse zeigt: Mehrheit der Befragten prägt im Lauf der Jahre höheren religiösen Stil aus

Die Forschenden arbeiten in ihren Studien vier religiös-weltanschauliche Stile heraus, die voneinander abgestuft werden: der fundamentalistisch-ethnozentrische, der konventionelle, der individuierend-reflektierende und der dialog-offene Stil. Diese Stile zeigen an, wie Glaube, Spiritualität und Weltanschauung die eigene Lebensgeschichte und das praktische Handeln in Lebenswelt und Gesellschaft prägen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie – erschienen im Fachmagazin Psychology of Religion and Spirituality – analysierte ein Forschungsteam des Projekts, wie sich die religiösen Stile der dreifach Befragten über etwa zehn Jahre entwickelten. Die Studie weist nach, dass die Mehrheit der Befragten einen höheren Stil ausprägt, sich zum Beispiel vom individuierend-reflektierenden zum dialog-offenen Stil fortentwickelt oder vom konventionellen zum individuierend-reflektierenden Stil. Faktoren, die dieser Entwicklung vorangehen, sind unter anderem hohe Werte für Offenheit für Erfahrungen und niedrige Zustimmung zur Absolutheit der eigenen Religion.

„Religiöse Entwicklung stellt sich jedoch nicht als einlinige Höherentwicklung dar“, sagt Streib. „Religiöse Entwicklung erscheint vielmehr als Progression und Regression, kann sich also auf ein höheres oder niedrigeres Niveau verändern. Bei einem erheblichen Teil der Interviewten ist ein Rückgang der religiösen Entwicklung festzustellen. Dieser Befund widerspricht Annahmen aus der Entwicklungspsychologie, die davon ausgehen, dass religiöse Stile – oder beispielsweise Moral – sich lediglich aufwärts entwickeln.“

Die neue Förderphase des Forschungsprojekts zu religiöser Entwicklung startet Anfang Januar 2022 und läuft bis Herbst 2024. Die John Templeton Foundation (USA) fördert die Kooperation mit rund 850.000 Euro, die Deutsche Forschungsgemeinschaft gibt rund 350.000 Euro. Ein neuer Fokus des Projekts wird sein, wie sich religiös-weltanschauliche Entwicklung darauf auswirkt, wie sich das Gottesbild beziehungsweise die Vorstellung von Transzendenz verändert. In einem zweiten Fokus geht das Projekt der Frage nach, inwiefern religiös-weltanschauliche Entwicklung hilft, Vorurteile und Xenophobie zu verringern und somit zu gesellschaftlichem Zusammenhalt beitragen kann.

Originalveröffentlichungen:

  • Heinz Streib, Zhuo Job Chen, Ralph W. Hood: Faith development as change in religious types: Results from three-wave longitudinal data with faith development interviews. Psychology of Religion and Spirituality, https://doi.org/10.1037/rel0000440
  • Heinz Streib, Barbara Keller, Ramona Bullik, Anika Steppacher, Christopher F. Silver, Matthew Durham, Sally B. Barker, Ralph W. Hood: Deconversion Revisited. Biographical Studies and Psychometric Analyses Ten Years Later. Brill Germany/Vandenhoeck & Ruprecht, https://doi.org/10.13109/9783666568688