Skip to main content

Medizinforschung für mehr Teilhabe am sozialen Leben


Autor*in: Linda Thomßen

In sechs neuen Forschungsprojekten arbeiten Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld mit Mediziner*innen des Universitätsklinikums OWL und aus Praxen in Ostwestfalen-Lippe an einer besseren Versorgung für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Die Universität fördert diese Vorhaben mit dem Anschubfonds Medizinische Forschung (AMF).

Nach Unfall mit virtueller Physiotherapie unterstützen

„Mit Physiotherapie können Menschen mit Verletzungen an Muskeln und Gelenken rehabilitiert werden. Die Übungen wollen wir in einer virtuellen Umgebung anbieten. Vor allem im ländlichen Raum ist die virtuelle Therapie für die Versorgung vielversprechend“, sagt Professor Dr. med. Thomas Vordemvenne von der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Evangelischen Klinikum Bethel. Die Patient*innen erhalten in der virtuellen Rehabilitation eine spezielle Brille, über die das individuelle Training erfolgt. Eine Kamera überwacht die Bewegungen. Vordemvenne hat das System mit Professor Dr. Thomas Schack von der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft entwickelt. Nun soll es zusammen mit Juniorprofessor Dr. Christoph Dockweiler von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Dr. med. Jens Conrad vom Zentrum für Ambulante Rehabilitation und Dr. med. Andreas Elsner von der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis am Bültmannshof in einer Studie getestet werden. Das Team will herausfinden, ob die virtuelle Therapie von Patient*innen und Therapeut*innen akzeptiert wird und wie sie sich verbessern lässt.

Aufbauend auf vorangegangener Forschung (linkes Bild) soll das künftige Trainingssystem (rechtes Bild) individuelle Übungen anbieten und auf die Patient*innen reagieren. Foto links: CITEC, Foto rechts: Miguel Cienfuegos

Entzündungen der Nasennebenhöhlen langfristig heilen

„Bei einer chronischen Rhinosinusitis leiden die Betroffenen unter einer lang andauernden Nasennebenhöhlenentzündung. Medikamente oder ein operativer Eingriff können helfen, aber in einigen Fällen besteht das bakterielle Ungleichgewicht weiter, was zu langwierigen Krankheitsverläufen führen kann“, sagt Professor Dr. med. Dr. Holger Sudhoff, Chefarzt der Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde am Klinikum Bielefeld. In der Studie soll ein Arbeitsablauf etabliert werden, mit dem die veränderten Bakterien in der Nase exakt und kostengünstig nachgewiesen werden können. Mit seinem Mitarbeiter, dem Biophysiker Dr. Matthias Schürmann, gewinnt Sudhoff Nasenabstriche von erkrankten und gesunden Menschen zum Vergleich. Professor Dr. Jörn Kalinowski vom
Centrum für Biotechnologie (CeBiTec) sequenziert die vorkommenden Bakterien und Professor Dr. Alexander Sczyrba, ebenfalls CeBiTec, wertet die gewonnenen Daten mit bioinformatischen Ansätzen aus. „Ein langfristiges Ziel ist, dass wir eine erkrankte Nasennebenhöhle mit den richtigen Bakterien besiedeln können“, sagt Sudhoff.

Die Proben werden in der Klinik entnommen, die Analyse erfolgt im Zentrum für Biotechnologie. Foto: Klinikum Bielefeld/ Matthias Schürmann

Entzündlich rheumatische Erkrankungen frühzeitig diagnostizieren

„In der Hausarztpraxis kann meist nicht gesichert festgestellt werden, ob es sich bei chronischen Schmerzen im Bewegungsapparat um eine rheumatische Erkrankung handelt. Deshalb müssen sich viele Patient*innen bei den Fachärzt*innen vorstellen. Das führt zu langen Wartezeiten auf Termine bei rheumatologischen Praxen – häufig drei bis sechs Monate“, sagt Professor Dr. med. Martin Rudwaleit von der Klinik für Innere Medizin und Rheumatologie
des Klinikums Bielefeld. Gemeinsam mit Professorin Dr. Christiane Fuchs von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und zwei Ärzten vom Evangelischen Klinikum Bethel, Professor Dr. med. Sebastian Rehberg und Privatdozent Dr. med. Wilfried Witte, arbeitet er an einer neuen Überweisungsstrategie für Menschen mit Schmerzen im Bewegungsapparat. Dafür soll schon in der Primärpraxis zuverlässiger erkannt werden, ob es sich um eine chronische Schmerzerkrankung wie die Fibromyalgie handelt. Für die Erstdiagnose entwickeln die Forschenden diagnostische Testverfahren, zum Beispiel Fragebögen. „Eine entzündlich rheumatische Erkrankung sollte möglichst früh von Rheumatolog*innen behandelt werden. Die Fibromyalgie kann dagegen bereits hausärztlich betreut werden“, so Rudwaleit.

Ein häufiger Grund für den Besuch einer ärztlichen Praxis sind Schmerzen in Gelenken und Muskeln. Foto: picture alliance/dpa-tmn | Christin Klose

Mit Analyse von Augenbewegungen kognitive Defizite erkennen

„Bei Schlaganfall und Alzheimer-Demenz sind Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfähigkeiten oft langfristig eingeschränkt und ein selbstgesteuertes Leben nicht möglich. Um die passende Unterstützung anbieten zu können, müssen wir die kognitiven Störungen zunächst zuverlässig erkennen“, sagt Dr. Christian Poth. Der Wissenschaftler von der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft sieht in aktuellen Testverfahren einige Schwächen, vor allem visuell-räumliche kognitive Störungen seien unterdiagnostiziert. Das will Poth ändern, gemeinsam mit Informatikprofessor
Dr. Helge Ritter und Psychologieprofessor Dr. Werner Schneider von der Universität Bielefeld und den Ärzten Dr. med Andreas Rogalewski, Professor Dr. med. Randolf Klingebiel und Professor Dr. med. Wolf-Rüdiger Schäbitz vom
Evangelischen Klinikum Bethel. Die Wissenschaftler arbeiten an einer Diagnostik, die auf Augenbewegungen basiert, dem Eyetracking. „Die Aufgabe der Versuchspersonen ist es, von einem Reiz auf dem Bildschirm wegzuschauen“, sagt Rogalewski. „Die Leistung bei der Aufgabe liefert ein Maß für die kognitive Kontrolle, die zum Beispiel bei Schädigungen des Frontalhirns beeinträchtigt wäre.“

Mit dem Eyetracker werden die Augenbewegungen gemessen, danach kann ein neurokognitives Profil erstellt werden. Foto: Universität Bielefeld/Birte Gestefeld

Mit einer App das Hören üben

„Das Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese für Gehörlose, die mit elektrischen Reizen Töne erzeugt. Nach der Operation ist ein langes, intensives Hörtraining erforderlich, um Sprache zu verstehen“, sagt Privatdozent Dr.
med. Ingo Todt. „In vielen Regionen wird allerdings nur das Cochlea-Implantat eingesetzt und eine Nachsorge in Form von Sprachrehabilitation ist nicht gewährleistet. In anderen Regionen gerät die Nachsorge an ihre Grenzen, da sie mit großem personellem und finanziellem Aufwand verbunden ist.“ Der Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde am Klinikum Bielefeld erstellt mit Professor Dr. Christoph Kayser aus der Fakultät für Biologie, Professor Dr.-Ing. Franz Kummert aus der Technischen Fakultät und Juniorprofessor Dr. Michael Römer von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften eine Softwareanwendung, die die Sprachrehabilitation durch Künstliche Intelligenz weitestgehend autonom mit den Patient*innen durchführen kann. Dafür haben die Forschenden die reguläre Rehabilitation analysiert und in einen flexiblen Algorithmus übersetzt. Nun sollen die Ergebnisse in eine intuitiv bedienbare Anwendung übertragen werden. „Unsere App wird den Patient*innen eine auf den persönlichen Stand angepasste und durch Künstliche Intelligenz unterstützte Sprachtherapie bieten“, so Todt.

Damit Gehörlose trainieren können, eine spezielle Hörprothese zu nutzen, erarbeitet das Forschungsteam Hörtests und Sprachübungen für eine neue App. Foto: Klinikum Bielefeld/Theda Eichler

Mit Schlafförderung dem Delir vorbeugen

„Nach einer Operation kann bei bis zu 40 Prozent der über 65-jährigen Krankenhauspatient*innen ein Delir auftreten, das sich in Desorientiertheit, Störung des Bewusstseins oder auch Halluzination zeigt“, sagt Dr. med. Stefan Kreisel. „Die Wahrscheinlichkeit eines postoperativen Delirs ist durch chronische Schlafstörungen um bis das Vierfache erhöht. In unserer Studie testen wir Methoden und Techniken zu Schlafförderung bei älteren Menschen im Krankenhaus.“ Kreisel ist Experte für Delirversorgung und -forschung an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Evangelischen Klinikums Bethel. Sein Wissen führt er mit der Schlafforschung der Psychologieprofessorin Dr. Angelika Schlarb von der Universität Bielefeld zusammen. Derzeit wählt das Team die passenden psychotherapeutischen und schlaffördernden Verfahren aus und testet sie ab Sommer 2021 an älteren Patient*innen, die vor einer Operation stehen. „Wir wollen mit der Pilotstudie weitere Forschungsprojekte anstoßen, ein regionales Netzwerk zu diesem Thema aufbauen und Schulungen für das Krankenhauspersonal vorbereiten“, so Kreisel.

Schlafstörungen können zu einem Delir führen – psychotherapeutische Verfahren sollen dem entgegenwirken. Foto: Evangelisches Klinikum Bethel