Individualisierung und Wandel: Universitäten Bielefeld und Münster bauen neues Institut auf


Autor*in: Jörg Heeren

Selbst über die eigene Lebensführung bestimmen, sich von Vorgaben der Gemeinschaft lösen und die Freiheit haben, aus diversen Verhaltensoptionen auszuwählen: All das gehört zur Individualisierung. Nicht nur Menschen können und müssen in ihrem Leben vielfach selbstständig entscheiden und handeln. Auch Tiere verhalten sich individuell und prägen zum Beispiel Verhaltensvorlieben aus. Welche Rolle die Individualisierung unter wechselnden Bedingungen spielt – das untersucht das neue Joint Institute for Individualisation in a Changing Environment (gemeinsames Institut für Individualisierung in sich wandelnden Umwelten, kurz: JICE), gegründet von der Universität Bielefeld und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wissenschaftler*innen aus acht Disziplinen erforschen, welche Ursachen und Konsequenzen mit Individualisierung verbunden sind.

Bereits seit 2018 kooperieren die Universitäten Bielefeld und Münster, um Individualisierung zu erforschen. Der Transregio-Sonderforschungsbereich NC³ (SFB/TRR 212) untersucht, wie Tiere individuell ihre eigene, unverwechselbare Nische schaffen und sich an ihre Umwelt anpassen. Die Abkürzung NC³ steht für „Eine neue Synthese zur Individualisation für die Verhaltensforschung, Ökologie und Evolution: Nischenwahl, Nischenkonformität, Nischenkonstruktion“. Biolog*innen und Philosoph*innen arbeiten in dem Verbund an einem fächerübergreifenden Verständnis der Individualisierung. Das JICE knüpft an die Arbeit des Sonderforschungsbereichs an und beschäftigt sich damit, was Individualisierung generell für Lebewesen bedeutet – sowohl für Menschen als auch für Tiere.

Prof. Dr. Johannes Wessels und Prof. Dr.-Ing. Gerhard Sagerer
Sie sehen großen Chancen in der interdisziplinären Ausrichtung des JICE: Prof. Dr. Johannes Wessels (li.), Rektor der Universität Münster, und Prof. Dr.-Ing. Gerhard Sagerer (re.), Rektor der Universität Bielefeld. Foto li.: WWU/Peter Wattendorff, Foto re.: Universität Bielefeld/Michael Adamski

Ursachen und Folgen der Individualisierung umfassend verstehen

„Individualisierung wird zwar schon jetzt in den Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften intensiv erforscht – allerdings kaum ohne Austausch zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen“, sagt Professor Dr.-Ing. Gerhard Sagerer, Rektor der Universität Bielefeld. „Die Gründung des JICE ist eine Initialzündung für den gemeinsamen Diskurs zu diesem fundamentalen Thema. Die fächerübergreifende Forschung wird dazu beitragen, die Ursachen und Folgen von Individualisierung umfassend zu verstehen und ebenfalls zu erfassen, welche Chancen und Risiken damit verbunden sind. Die beiden Universitäten engagieren sich dabei mit ihren jeweiligen fachspezifischen Kompetenzen.“ In dem neuen Institut kooperieren Wissenschaftler*innen aus Biologie, Psychologie, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Medizin, Philosophie, Ökonomie und Geowissenschaften.

„Schon die Forschung des Sonderforschungsbereichs NC³ hat gezeigt, wie ein interdisziplinärer Ansatz zu vielversprechenden und auch unerwarteteten Ergebnissen führen kann“, sagt Professor Dr. Johannes Wessels, Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. „Die Gründung des JICE eröffnet jetzt die Möglichkeit, Individualisierung im Kontext des kontinuierlichen Wandels unserer Welt zu verstehen. Das ist ein Thema von großer Tragweite, weil dieser Wandel sämtliche Umweltbedingungen einschließt, die den Menschen und andere Lebewesen beeinflussen.“ 

Individualisierung als grundlegender Vorgang

Das JICE wird von beiden Universitäten gemeinsam getragen. Zum Leitungsteam gehören die Professor*innen Dr. Oliver Krüger (Verhaltensforschung), Dr. Barbara Caspers (Verhaltensökologie) und Dr. Caroline Müller (Chemische Ökologie) von der Universität Bielefeld und die Professor*innen Dr. Joachim Kurtz  (Evolutionsbiologie), Dr. Helene Richter (Verhaltensbiologie und Tierschutz) und Dr. Jürgen Gadau (Evolutionsbiologie) von der WWU Münster. Das neue Institut soll die Forschung zur Individualisierung unter wechselnden Bedingungen stärken: zum Beispiel mit gemeinsamen Konferenzen und Seminaren und durch Stipendien für Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich auf die Forschung zu Individualisierung spezialisieren. Auch soll das JICE genutzt werden, um gemeinsame Verbundprojekte zu initiieren. 

Individualisierung zieht sich durch alle gesellschaftlichen Ebenen. Wie grundlegend das Thema ist, zeigt sich auch darin, dass es schon lange in vielen wissenschaftlichen Forschungsfeldern verankert ist. So ist in der Psychologie die Erforschung der Individualität und Persönlichkeit ein Kernthema. Die Verhaltensökonomik fokussiert ebenfalls auf das Individuum – sie untersucht, warum sich Individuen nicht entsprechend der ökonomischen Modelle verhalten. Die Forschung zur Präzisionsmedizin und personalisierten Medizin zielt darauf, individuelle Behandlungsstrategien zu entwickeln. 

Das Wechselspiel zwischen Individuen und ihrer Umwelt

Wie weit sich Menschen, Tiere oder auch Pflanzen individualisieren können, hängt immer von den Gemeinschaften ab, in denen sie leben. „Jedes Individuum existiert zwar unabhängig von den anderen Individuen in seinem Umfeld“, sagt Professor Dr. Joachim Kurtz von der WWU Münster. Er gehört nicht nur zum Leitungsteam des JICE, sondern ist auch Vizesprecher des Sonderforschungsbereichs NC³. „Doch kein Individuum lebt isoliert, sondern es interagiert mit anderen Individuen in einem übergeordneten System. Das bedeutet, dass ein Individuum sich immer mit der Gemeinschaft arrangieren muss, wenn es sich verändert. Indvidualisierung läuft immer in Wechselwirkung mit der Umwelt eines Lebewesens ab.“

Prof. Dr. Oliver Krüger und Prof. Dr. Joachim Kurtz
Sie gehören zu den Initiator*innen des neuen Instituts zur Individualisierung: Prof. Dr. Oliver Krüger (li.) von der Universität Bielefeld und Prof. Dr. Joachim Kurtz (re.) von der Universität Münster. Foto li.: Universität Bielefeld, Foto re.: WWU/Peter Grewer

Die Wissenschaftler*innen des JICE untersuchen das Verhalten, die Prägungen und Einstellungen von Individuen systemisch – also hinsichtlich ihrer Einbettung in ihre Lebenswelten. „Diese Lebenswelten sind nicht unverändlich, sondern wandeln sich fortwährend“, sagt Professor Dr. Oliver Krüger von der Universität Bielefeld, ebenfalls Mitglied des JICE-Leitungsteams und Sprecher von NC³. Biologische und gesellschaftliche Systeme sind immer von ihren Umweltbedingungen abhängig. „So wirkt sich die Erderwärmung auf die Lebenswelten von Menschen, Tieren und Pflanzen aus. Menschen sind seit Jahrzehnten Veränderungen durch Globalisierung und Digitalisierung ausgesetzt und werden in ihrem jeweiligen Lebensstil davon beeinflusst.“

Neues Institut führt bestehende Forschung zusammen

Im JICE kooperieren Wissenschaftler*innen aus dem Sonderforschungsbereich NC³, aber auch aus vielen weiteren Verbundprojekten und Instituten, die sich seit Längerem mit Individualisierung befassen. 

So untersucht die Forschungsgruppe 3000, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die individuelle Stressanpassung bei Pflanzen. Sie wird von Professorin Dr. Caroline Müller von der Universität Bielefeld koordiniert. Die Münsteraner Graduiertenschule zur Evolution (Münster Graduate School of Evolution) erforscht zum Beispiel, wie der Wandel des Genpools einer Population sich auf Individuen auswirkt. Sie wird von Professor Dr. Jürgen Gadau von der WWU geleitet. Das Graduiertenkolleg 2220 an der WWU widmet sich ebenfalls evolutionären Prozessen und der Frage, wie sie mit der Anpassung an Umweltbedingungen und mit Krankheiten zusammenhängen. Das Kolleg wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, Sprecher ist Professor Dr. Joachim Kurtz. 

Das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung (IZG) der Universität Bielefeld erforscht etwa, wie sich Geschlechterverhältnisse auf Individuen auswirken. Das Institut für Technologische Innovation, Marktentwicklung und Entrepreneurship (iTIME) der Universität Bielefeld nimmt Individualisierung insgesondere im Kontext von Digitalisierung in den Blick.

Individuelles Verhalten untersuchen Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld unter anderem in einer Langzeitstudie zu Mäusebussarden.