„Der Spagat zwischen laufendem Betrieb und Gesundheitsschutz“: Ein Interview mit Rektor Professor Dr.-Ing. Gerhard Sagerer und Kanzler Dr. Stephan Becker.
Herr Sagerer, am 31. Januar 2020 kam von Ihnen zum ersten Mal eine E-Mail zu einem neuen Virus namens Covid-19. Sie enthielt Reise- und Hygiene-Hinweise. Haben Sie damals erwartet, dass dieses Virus Grund für eine weltweite Pandemie werden könnte?
Sagerer: Das gesamte Ausmaß hat im Januar sicher noch niemand vorhersehen können. Mir war aber nach der Warnung der Weltgesundheitsorganisation schon bewusst, dass es sich um ein ernstzunehmendes Virus handelt, das nicht nur in Asien Gefahr bedeutet. Daher haben wir auch schon sehr früh mit der angesprochenen E-Mail reagiert, die insbesondere den Reiseverkehr mit China betraf. Und dann ging es ziemlich schnell…
Becker: Die Regelungen für Reiserückkehrer*innen haben wir schon wenig später auf weitere Länder und Regionen ausdehnen müssen. Zeitgleich habe ich für die Diskussion und Planungen von Maßnahmen erste Kommunikationsformate mit den verschiedenen Gruppen der Uni eingeführt, denn im Februar war klar, dass dieses Virus auch größere Auswirkungen auf den Universitätsbetrieb haben würde. Allerdings waren die Folgen doch um einiges einschneidender als befürchtet.
Als klar war, dass es sich um eine Pandemie handelt, die auch massive Auswirkungen auf den universitären Betrieb hat, was waren die leitenden Prinzipien, nach denen entschieden wurde?
Sagerer: Wir sind uns unserer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Universitäten sind Orte der Kommunikation und des internationalen Austausches – hier kommen viele Menschen auf engem Raum zusammen. Wissenschaftler*innen und Studierende sind zudem national und international mobil. Zum Glück hatten wir bei Ausbruch der Pandemie gerade Semesterferien…
Becker: Ja, die Semesterferien haben uns Zeit verschafft. Wir konnten dann in Gesprächen mit den unterschiedlichen Gruppen, unsere Linie sondieren. Das Ziel: Wir wollen alles tun, damit sich das Virus nicht weiter ausbreitet. Gleichzeitig sollte der Forschungs- und Lehrbetrieb soweit wie möglich weiterlaufen. Ein schwieriger Spagat, wie die weiteren Monate gezeigt haben. Ein Beispiel: Wir waren die einzige Universität, die zu keinem Zeitpunkt die Bibliothek komplett geschlossen hat, weil wir überzeugt sind, dass Wissenschaft Literatur braucht. Das haben viele Wissenschaftler*innen und Studierende wertgeschätzt, es gab aber auch Kritik, wir würden die Beschäftigten gefährden.
Sagerer: Zentraler Punkt unserer Krisenstrategie war die Kommunikation. Wir haben von Anfang an auf eine transparente und schnelle Kommunikation per E-Mail mit den Studierenden und Beschäftigten gesetzt und ein umfangreiches Internetangebot aufgebaut. Zudem haben wir in Live-Streams für Beschäftigte und Studierende versucht, unsere Linie, die Maßnahmen und die Implikationen zu erklären. Ich glaube, dass das für Verständnis und Vertrauen gesorgt hat. Uns war auch immer wichtig, zu signalisieren: Wir wissen, was diese Pandemie für die Beschäftigten und Studierenden bedeutet. Die Sorgen nehmen wir sehr ernst.
Becker: Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass wir bis heute von keinem Fall wissen, wo sich ein Beschäftigter oder Studierender in der Uni angesteckt hat. Das verdanken wir unseren ausgefeilten Hygieneschutzkonzepten und der Disziplin aller. Dafür möchte ich „Danke“ sagen.
Herr Becker, Sie leiten das Krisenteam. Können Sie uns einen Einblick ins Krisenmanagement geben?
Becker: Ab März war es notwendig, dass schnell Entscheidungen gefällt werden. Diese habe ich mit einem Team von zentralen Akteur*innen vorbereitet. In den teilweise täglichen Sitzungen dieses Krisenteams waren neben der Stabsstelle Arbeits-, Gesundheits- u. Umweltschutz (AGUS) die Bereiche Personal, Facility Management, Studium und Lehre sowie Kommunikation jeweils durch die Dezernent*innen vertreten. Frau Drechsler, Leiterin von AGUS hat die Sitzungen vorbereitet, die Erstellung der Organisationsverfügungen koordiniert und hat mit ihrem Team die vielen Hygienesicherheitskonzepte entwickelt. Den Kolleg*innen des Krisenteams möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich für die konstruktive und verantwortungsbewusste Zusammenarbeit danken.
Damit endete aber die Abstimmung und Kommunikation noch nicht…
Nein, die im Krisenteam besprochenen Maßnahmen wurden – wenn es zeitlich möglich war – im Rektorat und im Dezernatsleitungskreis diskutiert. Wenn nötig, gab es einen Austausch mit den Dekan*innen. Auch die Personalräte, die Gleichstellungbeauftragten sowie die Schwerbehindertenvertretung waren eingebunden. Wir haben darüber hinaus den Kontakt zum Bielefelder Gesundheitsamt gehalten und ich persönlich war im regelmäßigen Austausch mit dem Leiter des Krisenstabs der Stadt Bielefeld. Ich denke, dass wir eine gute Kommunikationsstruktur und -kultur haben, die schnelle und grundsätzlich akzeptierte Entscheidungen möglich macht. Insgesamt habe ich versucht, möglich viele Kolleg*innen einzubeziehen, um die Konsequenzen unseres Handelns zu verstehen.
Sagerer: Ich bin unheimlich stolz auf unsere gesamte Universität. Die Krise zeigt ganz deutlich, wie sehr sich die Beschäftigten und Studierenden mit ihrer Uni identifizieren…
Becker: … Um diese Situation so zu bewältigen wie wir es tun, brauchten wir ganz viele engagierte Menschen. Die Maßnahmen waren einschneidend und teilweise kamen sie kurzfristig. Wir haben alle gemeinsam in kurzer Zeit auf Online-Lehre sowie Homeoffice umgestellt und sind mit großem Verständnis die Herausforderungen angegangen. Ganz wichtig: die Infrastruktur hat gepasst. Unser Rechenzentrum BITS hat hier einen fantastischen Job gemacht. Ich müsste hier eigentlich noch ganz viele Kolleg*innen nennen, die in dieser Zeit Verantwortung übernommen haben.
Klingt alles sehr positiv. Gab es keine Probleme?
Becker: Zahlreiche, leider. Die Kinderbetreuung während des Lockdowns, parallel zur Arbeit, war und ist für viele Beschäftigte eine große Belastung. Hier haben wir mit Einführung von Vertrauensarbeitszeit für etwas Entlastung gesorgt – zumindest im Verwaltungsbereich. Die Umstellung auf digitale Formate in der Lehre hat immensen Aufwand verursacht. Bei den Lehrenden, aber auch in den Unterstützungsbereichen. Lehrende haben wir mit zusätzlichen Mitteln für Hilfskräfte unterstützt. Wir haben darüber hinaus einen großen Bedarf für Schulungen im technischen und didaktischen Umgang mit den digitalen Werkzeugen. Und dabei war die Kommunikation innerhalb der Organisationseinheiten und Arbeitsgruppen deutlich erschwert. Diese Beispiele verdeutlichen, wie komplex und anstrengend diese Pandemie für uns alle war und nach wie vor ist.
Sagerer: Darüber hinaus dürfen wir die Studierenden und deren Probleme und Sorgen nicht vergessen. Sie empfinden die Situation als sehr belastend, fürchten um ihren Studienerfolg, leiden unter dem fehlenden persönlichen Austausch und haben häufig finanzielle Probleme. Ein ganzer Jahrgang hat noch nicht vor Ort studiert. Wir tragen hier als Institution eine besondere Verantwortung. Für alle, die an der Lehre beteiligt sind, bedeutet es eine besondere Herausforderung und Belastung.
Becker: Eine Gruppe, die selten im Fokus ist, ist die der Nachwuchswissenschaftler*innen und Promovierenden. Viele fürchten um ihre wissenschaftliche Karriere, weil Vernetzung – vor allem internationale – kaum stattfindet, Forschungsaktivitäten einschränkt sind, Zugang zu Quellen oder Exkursionen nicht möglich sind. Hier kommt eine besondere Herausforderung auf das gesamte Wissenschaftssystem zu, damit keine „verlorene Generation“ entsteht.
Was sind und waren für Sie die größten Herausforderungen?
Sagerer: Es macht mich traurig, die Universität aktuell zu sehen: der eigentlich so lebendige Campus wirkt wie ausgestorben. Die leere Universitätshalle ist dafür ein gutes Bild, das so vieles auf den Punkt bringt. Auch wenn es ganz gut funktioniert: Ich mag mich nicht an Zoom-Meetings gewöhnen. Mir fehlt – wie vermutlich den meisten – der persönliche Austausch.
Becker: Ich bin sehr beeindruckt, wie flexibel unsere Universität sich gezeigt hat. Darauf können wir alle stolz sein. Dennoch nehme ich bei vielen mittlerweile eine nachvollziehbare Ermüdung wahr. Auch wenn wir uns gut auf die Situation eingestellt haben: Wir befinden uns nach wie vor im Ausnahmezustand, der an die Substanz und die Nerven geht. Wir müssen aber noch ein wenig durchhalten.
Vor kurzem waren die sogenannten Querdenker in der medialen Öffentlichkeit sehr präsent. Auch an der Universität Bielefeld gibt es Personen, die teilweise massive Kritik an den staatlichen Maßnahmen üben. Schaden diese Menschen dem Ruf der Universität Bielefeld?
Becker: Wir sagen ganz deutlich: Es ist oberstes Ziel der Universität Bielefeld, ihre Mitglieder vor Ansteckung zu schützen und durch entsprechende Maßnahmen den Universitätsbetrieb aufrecht zu erhalten. Für die gesundheitliche Sicherheit von Studierenden, Mitarbeitenden und Gästen haben wir daher von Beginn des Pandemiegeschehens an umfangreiche Schutzmaßnahmen getroffen sowie Hygienekonzepte erarbeitet und umgesetzt. Dabei besteht die Verantwortung, die die Universität zur Eindämmung der Pandemie trägt, nicht nur gegenüber den Universitätsmitgliedern, sondern – als eine der größten öffentlichen Einrichtungen in der Stadt – auch gegenüber allen Mitmenschen aus der Region Bielefeld. Wir stehen voll hinter den staatlichen Maßnahmen und wollen einen Beitrag leisten, diese gesellschaftliche Herausforderung zu meistern. Aber: Wir müssen auch akzeptieren, dass es Menschen gibt, die dazu eine andere Meinung haben. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sind sehr hohe Güter in einer Demokratie. Insbesondere in einer Zeit wie dieser, in der der Staat teilweise Grundrechte einschränkt.
Sagerer: Wir nehmen natürlich die Kritiker*innen in den eigenen Reihen wahr. Sie kritisieren teilweise die Maßnahmen der Universität, halten sie für nicht angemessen. Es gibt aber auch Wissenschaftler*innen, die in der Öffentlichkeit auftreten und Kritik an den staatlichen Maßnahmen üben. Auch das müssen wir akzeptieren. Sie dürfen selbstverständlich öffentlich ihre Meinung sagen. Den beruflichen Hintergrund müssen sie dabei nicht verheimlichen. Ich persönlich finde es natürlich mindestens unglücklich, wenn Wissenschaftler*innen unserer Universität teilweise sehr schwer zu akzeptierende Thesen und Theorien kommunizieren. Die Prüfung, ob Äußerungen und Veröffentlichungen wissenschaftlich fundiert sind, ist aber in solchen Fällen nicht Aufgabe des Rektorats. Ich setze hier auf die wissenschaftliche Community, die das diskutieren sollte. Auch nehmen wir keine moralische Bewertung vor. Ich sage aber auch: Problematisch wird es, wenn beispielsweise Lehrveranstaltungen genutzt werden, um entsprechende Thesen zu verbreiten. Das ist in schmaler Grat, da schauen wir sehr genau hin.
Wie geht es nun weiter? Wann können wir wieder gemeinsam in der Universität studieren und arbeiten?
Sagerer: Wir planen aktuell das Sommersemester wieder als hybrides. Also: möglichst viel online. Ich hoffe darauf, dass die Ankündigungen der Bundesregierung sich als richtig erweisen und wir im Herbst in großem Umfang geimpft sind. Dann sollte sich die Situation auch für uns deutlich verbessern. Ich hoffe auf das Wintersemester 2021/22.
Becker: Ich glaube auch nicht, dass wir vor Herbst zum gewohnten Uni-Betrieb zurückkehren werden. Bis dahin sollte es aber nach und nach Öffnungen geben. Ich bin optimistisch, dass es nach einem anstrengendem Winter jetzt wieder bergauf geht.