Sammelunterkünfte für Asylbewerber*innen sind besonders gefährdet, zu Hotspots für Corona-Infektionen zu werden. Das ist das Ergebnis einer Studie unter Leitung des Epidemiologen Professor Dr. med. Kayvan Bozorgmehr von der Universität Bielefeld. Das Studienteam setzt sich aus Wissenschaftler*innen des Kompetenznetzes Public Health Covid-19 zusammen. Sie haben Infektionsdaten aus 42 Sammelunterkünften in elf Bundesländern zusammengestellt und analysiert. Wird in einer Unterkunft eine Corona-Infektion festgestellt, ergibt sich laut den Forschenden für alle anderen Bewohner*innen ein Ansteckungsrisiko von 17 Prozent. In der vergangenen Woche hatten Medien bundesweit vorab über vorläufige Ergebnisse der Studie berichtet.
Ausgewertet wurden öffentlich verfügbare Daten aus elf Bundesländern und 42 Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete. Die Forschenden untersuchten, wie hoch das Risiko von Bewohner*innen ist, positiv getestet zu werden, sobald ein erster Fall einer Corona-Infektion in ihrer Sammelunterkunft nachgewiesen wurde. Dabei zeigte sich: In den betroffenen Sammelunterkünften wurden von den 9.785 Geflüchteten insgesamt 1.769 Personen positiv auf das Coronavirus getestet. Statistisch ermittelten die Forscher*innen für die Sammelunterkünfte, in denen ein Infektionsfall festgestellt wurde, ein Ansteckungsrisiko von 17 Prozent für alle anderen Bewohner*innen der berücksichtigten Unterkünfte.
Ausbreitungsrisiko ähnlich wie auf Kreuzfahrtschiffen
„Diese Ergebnisse lassen sich nicht auf alle Geflüchteten übertragen, da wir nur Sammelunterkünfte untersucht haben, in denen mindestens ein Fall auftrat“, sagt Kayvan Bozorgmehr, Professor für Public Health und Leiter der Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. „Unsere Erhebung zeigt jedoch deutlich: Wenn sich in einer Sammelunterkunft eine Sars-CoV-2-Infektion bestätigt, dann ist das Risiko einer Infektion für alle anderen Menschen in dem Heim ebenfalls hoch und liegt bei etwa 17 Prozent. In Einzelfällen lag das Risiko in Einrichtungen noch weit höher.“ Vergleichbar sei diese Zahl mit dem Ausbreitungsrisiko auf Kreuzfahrtschiffen, so Bozorgmehr weiter.
Die Ursache sei die große räumliche Nähe der Menschen in den Sammelunterkünften, sagt Oliver Razum, Co-Autor der Studie und Leiter der Arbeitsgruppe Epidemiologie & International Public Health der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. „Die beengten Verhältnisse begünstigen eine rasche Ausbreitung.“ Hinzu komme, dass sich viele Personen wenige Küchen, Toiletten und Duschen teilen müssten, so Razum. Zur Prävention empfehlen die Wissenschaftler*innen eine dezentrale Unterbringung. In zentralen Aufnahmeeinrichtungen sollte die Unterbringung zumindest in Einzelzimmern oder in kleinen Wohneinheiten organisiert werden. Dies sei auch im Interesse der öffentlichen Gesundheit, um eine rasche Ausbreitung des Virus bei Auftreten in Sammelunterkünften zu verhindern.
Häufig Kollektivquarantäne eingeleitet
Die Wissenschaftler*innen untersuchten auch, welche Maßnahmen angeordnet wurden, um die Ausbreitung in den Heimen einzudämmen. In den meisten betroffenen Einrichtungen (71 Prozent) wurde eine Kollektivquarantäne eingeleitet. Das bedeutet: Für alle 7.295 Bewohner*innen dieser Einrichtungen wurden Kontakt- und Ausgangssperren verhängt, auch wenn sie nicht selbst positiv getestet oder wenn sie in engem Kontakt zu Personen standen, die positiv getestet wurden. „Im Vergleich zu einem Vorgehen, bei dem lediglich bestätigte Infizierte isoliert wurden und enge Kontaktpersonen in Quarantäne kamen, hatte die pauschale Quarantäne aller Bewohner*innen jedoch keinen messbaren Vorteil – das Ausbreitungsrisiko blieb gleich“, sagt Kayvan Bozorgmehr. Auch ein Nutzen für die umliegende Bevölkerung sei bisher nicht belegt, so die Wissenschaftler*innen in ihrer Studie. Auch sei eine Kollektivquarantäne ethisch und rechtlich bedenklich, weil sie Betroffene psychosozial stark belaste.
Als ein Fazit ihrer Studie raten die Wissenschaftler*innen Verantwortlichen in Politik und Behörden, bundesweite Empfehlungen zu entwickeln, um die Prävention und Eindämmung von Sars-CoV-2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften zu vereinheitlichen und zu verbessern.
Die Daten der Studie stammen aus öffentlichen Berichten von Medien sowie Meldungen zuständiger Bundesländer und Landkreise. Die Studie entstand auf Initiative von Bozorgmehrs Arbeitsgruppe und des Kompetenznetzes Public Health Covid-19. Um die wissenschaftliche Qualität der Studie sicherzustellen, hat sie ein internes Begutachtungsverfahren (Peer-Review) durchlaufen. Dabei prüften sechs Wissenschaftler*innen, die nicht an der Studie beteiligt waren, die Daten und die Auswertung.