Die aktuelle ZiF-Forschungsgruppe arbeitet wegen der Coronapandemie mittlerweile fast ausschließlich digital miteinander. Ihr zentrales Thema lautet „Situationsmodelle: Neue Perspektiven auf das kognitive Verhalten von Menschen, Tieren und Maschinen“. Die Forschenden widmen sich dabei vor allem der Flexibilität. Diese erfahren die Wissenschaftler*innen nun gleich zweifach: als Forschungsgegenstand und als Arbeitsweise.
Warum haben Sie das Thema Flexibilität ins Zentrum der Arbeit Ihrer Forschungsgruppe gestellt?
Wir glauben, dass flexibles Agieren die entscheidende Fähigkeit ist, mit der kognitives (wahrnehmendes) Verhalten überhaupt erst möglich wird. Wie schafft es der Vogel beim Nestbau einen Zweig so einzupassen, dass alles gut zusammenhält – obwohl die Gestalt der Zweige und ihrer Verschränkung im gerade entstehenden Nest in dieser Form noch nie dagewesen ist? Wie gelingt es uns, ein geometrisches Puzzle zu lösen oder in kurzer Zeit einen neuen Arbeitsablauf zu lernen? Welche Mechanismen in Geist und Gehirn diese Flexibilität vermitteln, wird gerade in Psychologie und Neurowissenschaften intensiv erforscht. Gleichzeitig sehen wir wichtige Durchbrüche im Bereich Künstlicher Intelligenz und Robotik: Dort eröffnen Verbindungen von „Deep Learning“ mit weiteren maschinellen Lernverfahren neue Wege, um intelligentes Verhalten durch Lernen vorwiegend aus Daten und Interaktion zu synthetisieren. Trotz dieser Fortschritte klafft noch immer eine große Lücke zwischen der Flexibilität heutiger Robotiksysteme – zum Beispiel autonomer Fahrzeuge – und der beeindruckenden Flexibilität von Menschen und Tieren. Jede beteiligte Disziplin – Psychologie, Neurowissenschaften und Informatik – liefert nur einzelne Mosaiksteine der Erkenntnis. Nur mit allen Steinen gemeinsam können wir verstehen, wie die Schlüsselmechanismen flexiblen intelligenten Verhaltens wirken. So wollen wir die kognitiven Fähigkeiten unseres und anderer Gehirne besser verstehen, als auch die Kognition technischer Agenten näher an diejenigen ihrer natürlichen Vorbilder bringen.
Eine ZiF-Forschungsgruppe steht eigentlich dafür, dass sich eine interdisziplinäre Gruppe für einen gewissen Zeitraum auch örtlich zusammenfindet und intensiv miteinander arbeitet. Wie geht das in der aktuellen Situation?
Unsere Forschungsgruppe ist sowohl international – die Forschenden kommen aus Deutschland, Israel, Japan und USA –, als auch multidisziplinär – etwa aus Psychologie, Hirnforschung, und Informatik – aufgestellt. Seit dem Start der Gruppenaktivitäten im Oktober 2019 lebten und forschten unsere Mitglieder über unterschiedliche Zeiträume am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen. Kern des Austauschs ist ein fester, wöchentlicher Rhythmus um einen regelmäßigen Jour Fixe, an dem die gerade Anwesenden zusammenkommen, um zusammen mit lokalen Kollegen und Kolleginnen aktuelle Forschungsfragen intensiv zu erörtern. Ein weiteres wichtiges Element ist ein universitätsöffentliches Kolloquium (COBHAM Colloquium) im CITEC-Gebäude, in dem neueste Forschungsergebnisse in Vorträgen vorgestellt und diskutiert werden. In größeren Abständen eingestreut finden Konferenz- und Workshop-Veranstaltungen mit eingeladenen internationalen Expert*innen statt. Die übrigen Zeiten stehen für individuelle Gespräche, Nachbereitung und „Forschungsarbeit am Schreibtisch“ zur Verfügung. Trotz des Ausbruchs der Coronapandemie ist es uns bisher gelungen, diese inhaltliche und zeitliche Struktur gut beizubehalten.
Der vorerst letzte Workshop im März markierte unfreiwillig den Übergang in die Pandemie und konnte gerade noch in einer Mischung aus physischer und virtueller Präsenz stattfinden. Seither haben wir sowohl Jour Fixe als auch das Colloquium komplett ins Digitale verlagert. Alle Teilnehmenden wie auch die oder der Vortragende schalten sich vom eigenen PC – meistens im Homeoffice – mit Bild und Ton zu. Trotz gelegentlicher Internetverbindungsprobleme und höher wahrgenommener Anstrengung klappt diese neue Kommunikationsform erstaunlich gut. Wir hatten schon zuvor mit digitalen Kooperationsformen experimentiert, die das ZiF ohnehin verstärkt anbieten wollte. Da waren wir zugleich Versuchskaninchen und Impulsgeber.
Allerdings kann sie den für kreative Wissenschaft unersetzlichen direkten Austausch von physisch anwesenden Personen nicht komplett ersetzen. Ein unmittelbares Gespräch bei Kaffee oder Tee im Fellow-Raum des ZiF oder ein gemeinsamer Waldspaziergang im Teutoburger Wald schaffen eine kreative Atmosphäre, die digital nicht in vergleichbarer Weise hergestellt werden kann. Deshalb fühlten wir uns ein wenig niedergeschlagen, als die bisher letzten externen Gruppenmitglieder aus den USA und aus Deutschland Mitte April das ZiF verließen und der Austausch der Mitglieder seitdem ausschließlich digital stattfindet. Bis zum Ende unserer Gruppenpräsenzzeit im Juli 2020 werden wir als Folge der weltweiten Sicherheitsvorkehrungen nur noch wenige unserer externen Mitglieder in Bielefeld begrüßen können.
Was lernen Sie aus der aktuellen Situation?
Positiv ist, dass seit dem Start der internet-basierten Form unseres Colloquiums nicht nur in Bielefeld präsente Forschende teilnehmen, sondern auch ZIF-Gruppenmitglieder, die sich gerade an ihren Heimatorten aufhalten. Die dadurch entstehende neue Möglichkeit des Kommunizierens wird von unseren weltweit verstreuten Mitgliedern erfreut angenommen. Wenn man so will, hat die Pandemie eine neue Flexibilität unseres Verhaltens herbeigezwungen. Kaum jemand unseres Teams war videobasiertes Kommunizieren in Gruppen gewohnt. Das hat unsere ZiF-Forschungsgruppenaktivitäten in wissenschaftlicher wie auch menschlicher Sicht in innovativer Weise bereichert.
Die aktuelle ZiF-Forschungsgruppe hat im Oktober 2019 ihre Arbeit aufgenommen. Leiter sind die Bielefelder Forscher Professor Dr. Werner Schneider und Professor Dr. Helge Ritter. Josefine Albert und Shiau-Chuen Chiou koordinieren die Forschungsgruppe.