Der Weltgesundheitstag am 7. April soll auf die Bedeutung der Gesundheitsversorgung und auf Krankheitsprävention aufmerksam machen. Doch diese Ziele sind in vielen Ländern gefährdet, stellen Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld in einem Beitrag im Fachmagazin „Science“ fest. Die Corona-Krise zeigt nach Ansicht des Forschungsteams, wie wichtig faktenbasierte Forschung ist und wie gefährlich es für die öffentliche Gesundheit ist, wenn Hinweise von Forschenden und Mediziner*innen auf Krankheiten politisch unterdrückt werden.
Der Kommentar in „Science“ steht unter der Überschrift „Public health scientists in the crosshairs of populists“ (Gesundheitswissenschaftler*innen im Fadenkreuz der Populist*innen). Verfasst wurde er von Lisa Wandschneider, Dr. Yudit Namer und Professor Dr. Oliver Razum von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Sie beziehen sich mit dem Beitrag auf ein zuvor publiziertes Editorial. Darin spricht sich „Science“-Chefredakteur H. Holden Thorp dafür aus, dass Forschende sich am politischen Geschehen beteiligen sollen. Dem stimmen die Bielefelder Gesundheitswissenschaftler*innen zu, nur möglich sei das nicht immer – zum Beispiel, wenn Forschende bedroht werden. Mit Blick auf die Corona-Krise weist das Forschungsteam auf den chinesischen Arzt Li Wenliang aus Wuhan hin, der schon im Dezember 2019 in einer Chat-Gruppe frühere Kommiliton*innen auf die später als Covid-19 bekannte Erkrankung hinwies. Die Behörden zwangen ihn, eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben und keine Informationen über die Krankheit zu verbreiten.
Forschende weltweit in ihren Grundrechten eingeschränkt
Das Netzwerk „Scholars at Risk“ hat von September 2018 bis August 2019 insgesamt 324 Angriffe auf Forschende gezählt. „In Zeiten von populistischen Bewegungen und ‚alternativen Fakten’ können wir beobachten, dass wissenschaftliche Befunde immer häufiger angezweifelt werden. Forschende werden angegriffen, wenn sie sich für evidenzbasierte Erkenntnisse einsetzen und diese verbreiten“, sagt Professor Dr. Oliver Razum, Leiter der Arbeitsgruppe „Epidemiologie & International Public Health“ und Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Er und seine Mitarbeiter*innen forschen dazu, wie Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung verteilt sind und wie Gesundheit gefördert werden kann. Mit ihrem Kommentar im Magazin „Science“ wollen die Wissenschaftler*innen ein Bewusstsein schaffen für die Probleme, vor denen die Wissenschaftskommunikation im Bereich „Public Health“ (Gesundheitswissenschaften) steht.
Als weiteres aktuelles Beispiel führen sie die Verurteilung von Dr. Bülent Şık an – ein Lebensmittelingenieur, der seine Forschungsergebnisse zur Verunreinigung von Lebensmitteln in der Türkei publizierte. Im September 2019 wurde er zu 15 Monaten Haft verurteilt. „Nicht-evidenzbasierte politische Entscheidungen haben weitreichende negative Auswirkungen auf die Bevölkerungsgesundheit“, sagt Lisa Wandschneider, Mitarbeiterin von Razum und Erstautorin des Kommentars. „Daher müssen insbesondere Gesundheitswissenschaftler*innen aktiv dagegen Einspruch erheben, ohne dass ihre Freiheit und Autonomie eingeschränkt wird.“
Wenn populistische Politik die Gesundheit beeinflusst
Populistische Haltungen dringen laut den Forschenden mittlerweile in alle Demokratien ein. Deren Forderungen skizzieren häufig ein vermeintlich homogenes „Wir“ im Kontrast zu den „Anderen“ und basieren damit auf nationalistischen Ideologien, nicht aber auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Populistische Ideologien widersprechen unserem ethischen Grundverständnis“, sagt Razum. „Gesundheit ist ein Menschenrecht, das nicht an bestimmte Merkmale einer Personengruppe gebunden ist.“
Negative Auswirkungen durch Populismus auf die Gesundheit beobachten die Bielefelder Forschenden weltweit, unter anderem bei bestimmten Bevölkerungsgruppen in den USA, Deutschland und anderen europäischen Ländern. So komme es häufig vor, dass Migrant*innen es schwerer haben, Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen und dass Frauen der Zugang zu Verhütung und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen eingeschränkt wird. Aber auch die gesamte Bevölkerung könne unter populistischer Politik leiden: „Wenn ganze Gesundheitssysteme durch Kriege wie in Syrien zusammenbrechen oder der menschenverursachte Klimawandel und dessen Folgen geleugnet werden wie in den USA, betrifft das die Gesundheit von uns allen“, sagt Razum.
Einsatz für akademische Freiheit
„Wir halten es für äußerst wichtig, dass Forschung unabhängig ist und bleibt. Mit unserer Antwort auf das Science-Editorial möchten wir dieser Forderung in unserer Disziplin Public Health möglichst viel Gehör verschaffen“, sagt Razum. Der Bielefelder Kommentar bekam positive Reaktionen, zum Beispiel von Gesundheitswissenschaftler*innen aus Colorado, USA. Außerdem erfuhren die Bielefelder Forschenden von einem Offenen Brief, der Dr. Bülent Şık unterstützt. „Solange Regierungen Forschende nicht schützen, müssen wir uns als Gemeinschaft für akademische Freiheit einsetzen“, sagt die Co-Autorin Dr. Yudit Namer. Insgesamt haben Razum, Wandschneider und Namer Hoffnung: In der Türkei bilden sich verschiedene Solidaritätsinitiativen. Akademiker*innen, die entlassen wurden, organisieren Vorlesungen, Seminare und Workshops in nicht-universitären öffentlichen Räumen. „Das zeigt, wie die akademische Freiheit auf anderen Wegen existieren und dass strukturelle Attacken Wissenschaft nicht ersticken kann“, sagt Namer. „Wir hoffen, dass Wissenschaft kein Privileg, sondern allen zugänglich ist.”
The World Health Day, which is held on 7 April is meant to highlight the importance of healthcare and disease prevention around the world. In many countries, however, these public health objectives are under threat. Researchers from Bielefeld University diagnosed this problem in a recent ‘Letter to the Editor’ published in the journal Science. As argued by the research team, the Coronavirus crisis lays bare just how essential evidence-based research is – and how dangerous it is for public health when information on disease from scientists and medical professionals becomes subject to political repression.
The ‘Letter to the Editor’ published in Science is titled ‘Public health scientists in the crosshairs of populists,’ and it was penned by Lisa Wandschneider, Dr. Yudit Namer, and Professor Dr. Oliver Razum, all of whom are members of Bielefeld University’s School of Public Health. The commentary was written in response to a previously published editorial in which H. Holden Thorp, Editor-in-Chief of Science, argues that scientists ought to get involved in the political arena. The Bielefeld public health researchers agree with him, noting however, that political action is not always possible, especially for scientists under threat of political repression. In the case of the Corona crisis, the researchers point to the story of Li Wenliang, the Chinese physician from Wuhan who in December 2019 used a group chat to alert former medical school classmates to the disease that would later be recognized as Covid-19. Officials forced him to sign a letter of admonition for ‘making false comments on the Internet’ and barred him from speaking about the disease under threat of prosecution. Tragically, Dr. Li Wenliang later died of Covid-19, the very disease for which he sounded the alarm.
Fundamental Rights Being Restricted for Researchers Around the Globe
From September 2018 – August 2019, the advocacy network ‘Scholars at Risk’ recorded a total of 324 attacks on scientists. ‘In this era of populist movements and “alternative facts,” we are seeing that doubt is increasingly being cast on scientific evidence. Scholars are attacked when they advocate for and disseminate evidence-based findings,’ says Professor Dr. Oliver Razum, who is the head of the ‘Epidemiology & International Public Health’ work group and serves as dean of the School of Public Health. Prof. Dr. Razum and his colleagues investigate how health and disease are distributed in populations, and how health can be promoted. With their comments in their ‘Letter to the Editor’ in Science, the researchers aimed to raise awareness of the problems faced in the field of public health when it comes to communicating scientific information to the public.
In another example, the researchers cited the conviction of Dr. Bülent Şık, a food engineer who reported his research findings on food contamination in Turkey. In September 2019, he was sentenced to 15 months in prison. ‘Political decisions that are not made based on scientific evidence have far-reaching, negative consequences for public health,’ says Lisa Wandschneider, who is the lead author of the ‘Letter to the Editor’ and a colleague of Prof. Dr. Razum. ‘This is why public health scientists in particular must actively speak out against this – without having their freedom and autonomy be restricted.’
When Populist Politics Impact Public Health
As observed by the researchers, populist attitudes have now permeated all democratic societies. Populist appeals often delineate a supposedly homogeneous ‘we’ that stands in opposition to others (‘them’). These claims are thus based on nationalistic ideologies, not on scientific evidence. ‘Populist ideologies are contrary to our basic ethical understanding,’ says Razum. ‘Health is a human right, not something that is bound to certain characteristics of a group of people.’
According to the Bielefeld researchers, the negative effects of populism on the health of certain groups in the population can be seen around the world, including in the United States, in Germany, and in other European countries. As a result of this trend, immigrant women often have a harder time accessing healthcare, and access to birth control and safe abortion services are also restricted for women. But the entire population can also suffer under populist politics: ‘It affects the health of us all when healthcare systems collapse during war, as in Syria, and when climate change caused by human activity is actively denied, as in the United States,” explains Razum.
Working to Protect Academic Freedom
‘We consider it extremely important that scientific research is – and remains – independent. With our response to the science editorial, we wanted to make this message heard as widely as possible in our discipline of public health,’ says Razum. The Bielefeld researchers’ letter to the editor was met with positive reactions, including a response from public health scientists in the U.S. state of Colorado. In addition to this work, the Bielefeld researchers also signed and disseminated an open letter in support of Dr. Bülent Şık. ‘As long as governments fail to protect scientists, we have to work together as a community to advocate for academic freedom,’ explains co-author Dr. Yudi Namer.
On the whole, Razum, Wandschneider, and Namer do have hope. In Turkey, various solidarity initiatives are forming: academic researchers who have been dismissed from their posts are organizing lectures, seminars, and workshop in public spaces outside of the university. ‘This shows how academic freedom can exist in different ways, and how structural attacks cannot stifle science,’ says Namer. ‘It is our hope that scholarship is not a privilege, but rather something that is accessible to everyone.’