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Ungewissheit als Werkzeug, um Menschen zu binden


Autor*in: Silke Tornede

Ukraine-Krieg, Klimawandel und Corona-Pandemie, wachsende soziale Ungleichheit und Populismus – die Liste von Krisen lässt sich fortsetzen und zeigt: Unsere Gesellschaft ist derzeit mit zahlreichen Konflikten und Veränderungen konfrontiert, und die gehen immer auch mit Verunsicherung und Ungewissheit einher. Gewalt und Konflikte sind geprägt von Ungewissheit. Sie erzeugen Unsicherheit und Unsicherheit führt zu neuen Konflikten. Beides gehört zusammen, sagt Professor Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld.

Wie gesellschaftliche Gruppen in Konfliktsituationen mit Unsicherheit umgehen, ist ein zentrales Thema in Zicks Forschung, die von empirischer Sozialforschung geprägt ist. Wie wird Unsicherheit bewusst für eigene Zwecke eingesetzt und instrumentalisiert? Wo trägt Ungewissheit auch zur Konfliktlösung bei? Kann Unsicherheit auch ein Faktor sein, an dem Gesellschaften wachsen und sich weiterentwickeln? Das sind Fragen, die laut Zick in der Konfliktforschung bislang zu wenig beachtet wurden.

Wie ungewisse Annahnen zu Sicherheit führen können

Die verbreitete Annahme ist: Unsicherheit ist negativ und schädigend und Menschen suchen Sicherheit. „Aber das ist zu ungenau“, meint Andreas Zick und verdeutlicht am Beispiel der Covid-19-Pandemie, wie entscheidend der Umgang mit Unsicherheit ist. „Nehme ich die Bedrohung ernst oder schließe ich mich Gruppen an, die einfache Lösungen und vermeintliche Sicherheit bieten?“ Für den Sozialpsychologen habe sich in der Pandemie gezeigt: Das Zulassen von Unsicherheit kann durchaus positive Effekte haben. Studie zeigen: Diejenigen, die das Coronavirus ernst nehmen und nicht behaupten, genau zu wissen, wie gefährlich es ist, öffnen sich für konstruktive Lösungen. Sie zeigen solidarisches Verhalten, tragen Maske und versuchen sich und andere zu schützen. Demgegenüber stehen Gegner*innen der Corona-Maßnahmen, die Gefahren leugnen und beispielsweise Verschwörungstheorien anwenden, um die Bedrohung in vermeintliche Gewissheit zu überführen. „Das Verrückte ist dabei: Es werden höchst ungewisse Annahmen eingesetzt, um Sicherheit zu erzeugen.“

Bild der Person: Prof. Dr. Andreas Zick, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
Prof. Dr. Andreas Zick will zeigen, dass Unsicherheit auch zu Konfliktlösungen beitragen kann.

Mit verunsichernden Informationen zu Kontrollverlust

Der Einsatz von Verunsicherung und falscher Sicherheit lässt sich laut Zick auch in den sozialen Medien beobachten. „In einigen Netzwerken gebrauchen Gruppen Ungewissheit als Werkzeug, um Menschen an sich zu binden“, so Zick. „Sie nutzen verunsichernde Informationen, um Menschen in einen Kontrollverlust zu bringen und bieten ihnen dann Lösungen an.“ Extremist*innen arbeiten mit Untergangsszenarien. Populist*innen schaffen eigene Wahrheitswelten.

Zick, der seit Jahrzehnten intensiv Phänomene wie Gewalt, Diskriminierung und Radikalisierung erforscht, sieht etwa mit Blick auf den Aufschwung des Rechtspopulismus hier neue Zusammenhänge: Nicht die Ungewissheit treibt Menschen in den Populismus, sondern der Populismus erzeugt mithilfe neuer Technologien maximal Ungewissheit, um Menschen und Gruppen zu Einstellungsänderungen zu bewegen, so der Konfliktforscher. „Der Gebrauch von Ungewissheit ist also ein zentraler Modus, um Polarisierungen zu verstehen und zu erkennen, wie gesellschaftliche Gruppen mit Ungewissheiten Konflikt erzeugen und regulieren können“, sagt Zick.

Den Wert von Unsicherheit darstellen

Andreas Zick arbeitet für die Forschung zu Ungewissheit und ihrer Instrumentalisierung mit Bielefelder Kolleg*innen weiterer Institute und Fakultäten zusammen. Von der interdisziplinären Kooperation erhofft er sich, dass nicht nur schädigende Effekte von Unsicherheit aufgedeckt werden, sondern dass Wissenschaft auch zeigt, „wie wertvoll Ungewissheit ist und wie entscheidend es ist, wie wir mit ihr umgehen.“ Unsicherheit könne auch zu konstruktiven Konfliktlösungen beitragen, etwa wenn sie zum Nachdenken, Abwägen und zu kritischem Hinterfragen führt, wenn sie für Risiken und Gefahren sensibilisiert – Dinge, die in einer „Tempo-Gesellschaft“, die schnelle Entscheidungen fordert, oft zu wenig gewürdigt werden. Doch viele Probleme sind zu komplex, als dass sie mit schnellen und einfachen Antworten gelöst werden könnten.

„Sei dir nicht gewiss. Das ist ein urdemokratisches Prinzip“, sagt Andreas Zick und plädiert dafür, gerade in Krisenzeiten die Unsicherheit ernster zu nehmen als die Gewissheit. „Demokratien wachsen, indem sie Ungewissheit zulassen und produktiv nutzen“, erklärt er. „Gesellschaften, die Ungewissheiten wegdiskutieren, verändern sich nicht.“