Hände halten Regenbogenflaggen hoch

Was Geschlechts-Identität für den Lebensalltag bedeutet


Autor*in: Maria Berentzen

Im Juni stehen LGBTQI*-Menschen im Mittelpunkt: Die englische Abkürzung steht übersetzt für lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, queer und intersexuell. Sie umfasst alle Menschen, die sich nicht der zweigeschlechtlichen oder heterosexuellen Norm zugehörig fühlen. Der Juni gilt als Pride Month (Pride = Stolz) und damit geht es in diesem Monat in Aktionen und Veranstaltungen besonders um das Selbstbewusstsein von LGBTQI*-Personen und Respekt ihnen gegenüber. Fragestellungen rund um LGBTQI*-Menschen werden an der Universität Bielefeld in einer Reihe von Disziplinen erforscht. Fünf Forschende und ihre Themen.

Rechtlich Raum schaffen für Vielfalt bei der Elternschaft

Dr. Anne Sanders ist Professorin für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht, das Recht der Familienunternehmen und Justizforschung. Sie forscht unter anderem zu neuen Familienformen.

In ihrer Forschung beschäftigt sich Professorin Dr. Anne Sanders mit neuen Familienformen. „Unsere Welt ist in den vergangenen 40 Jahren deutlich bunter geworden. Familiengründung von LGBTQI*-Personen ist aber rechtlich immer noch nicht so selbstverständlich, wie es sein sollte“, sagt sie. In die aktuelle Diskussion der Bundesregierung zu diesen Themen bringt sie sich mit ihrer Forschung ein.

Bild der Person: Prof’in Dr. Anne Sanders, Fakultät für Rechtswissenschaft
Prof’in Dr. Anne Sanders forscht zu neuen Familienformen und beschäftigt sich dabei zum Beispiel mit Fragen zur Elternschaft.

Die Rechtswissenschaftlerin befasst sich insbesondere mit der unmittelbaren gemeinsamen Elternschaft von miteinander verheirateten Frauen. „In einer verschiedengeschlechtlichen Ehe wird der Ehemann automatisch der Vater jedes Kindes, das die Ehefrau zur Welt bringt, egal, ob er der genetische Vater des Kindes ist“, sagt sie. Er wird rechtlich gesehen auch Vater, wenn ein Samenspender zum Einsatz kam. „Das gilt aber nicht, wenn beide Eheleute Frauen sind – selbst, wenn eine Frau das Kind geboren hat und die Eizelle der anderen für die Zeugung des Kindes verwendet wurde.“ Die Frau, die das Kind nicht geboren hat, muss es adoptieren.

Diskutiert wird beispielsweise auch das ethisch schwierige Thema Leihmutterschaft. „Die Leihmutterschaft ist in vielen Ländern außerhalb Deutschlands möglich, in Deutschland aber strafbar“, sagt Anne Sanders. Daher gingen deutsche Paare ins Ausland, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Das werfe die Frage nach der Ausbeutung von wirtschaftlich schwächeren Frauen auf und stehe nur reichen Paaren offen. „Eine Legalisierung der Leihmutterschaft in Deutschland könnte potenziell ermöglichen, alle Beteiligten durch geeignete Verfahren zu schützen.“ Auch mit den Regenbogenfamilien befassen sich Politiker*innen und Rechtswissenschaftler*innen. Kinder in diesen Familien stammen zum Beispiel daher, dass sich lesbische und schwule Paare für ein gemeinsames Kind zusammentun. Auch die Elternschaft von Trans*personen werde diskutiert, sagt Sanders. Dabei geht es darum, dass Personen in den Dokumenten ihrer Kinder als Mutter oder Vater eingetragen werden, auch wenn das womöglich nicht dem Geschlecht entspricht, mit dem sie sich selbst identifizieren.

Wie Klänge und Körper vergeschlechtlicht werden

Holly Patch promoviert an der Bielefelder Graduiertenschule für Geschichte und Soziologie (BGHS). Sie hat Gender Studies studiert und gehört der ZiF-Forschungsgruppe „Weltweite Anfechtung von Frauen und Geschlechterrechten“ an.

Holly Patch befasst sich damit, wie es Trans*personen erleben, im Chor zu singen: „Ich interessiere mich dafür, wie stimmliche Klänge und Körper vergeschlechtlicht werden und was gemeinsames Singen Trans*menschen ermöglicht“, sagt sie. Die Doktorandin hat einen Abschluss in Gender Studies und hat vor einigen Jahren klassischen Gesang studiert. „Aufgrund meines interdisziplinären Hintergrunds möchte ich mit der Studie einen Beitrag zur Wissensproduktion in den Bereichen Trans* Studies, Voice Studies, Gender Studies und Soziologie leisten“, sagt sie. „Außerdem finde ich es wertvoll, die Freude hervorzuheben, die die sich als trans*identifizierenden Singenden bei ihren gemeinsamen Proben und Auftritten mit dem Trans*chor erleben.“

Holly Patch, Holly Patch, Bielefelder Graduiertenschule für Geschichte und Soziologie
Holly Patch hat klassischen Gesang studiert, bevor sie sich den Gender Studies widmete. In Ihrer Promotion befasst sie sich mit der Verbindung von Gesang und Geschlecht.

Momentan gebe es in den USA und zum Teil aber auch in Deutschland massive Angriffe auf Trans*menschen. Die Angriffe richten sich Patch zufolge etwa auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung oder auf die gesellschaftliche Teilhabe. „Die Versuche, die politische Macht der Rechten zu sichern, sind extrem gefährlich für Trans*menschen und Teil einer antiliberalen Agenda, die weitreichende Auswirkungen hat, nicht nur für LGBTQI*-Menschen.“

Angemessen auf Gesundheitsbedarfe von LGBTIQ*-Personen eingehen

Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin an der Medizinischen Fakultät OWL und leitet die Arbeitsgruppe Geschlechtersensible Medizin.

In den Forschungs- und Lehrprojekten von Professorin Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione zur geschlechtersensiblen Medizin sind LGBTQI*-Menschen immer mitgedacht. Besonderen Bedarf sieht sie in der medizinischen Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe bei der Kommunikation. „LGBTIQ*-Personen berichten immer wieder von schwierigen und teils traumatischen Erfahrungen in der Interaktion mit Gesundheitspersonal“, sagt sie. Um eine bestmögliche Behandlung zu gewährleisten, sei es unbedingt notwendig, alle Menschen diskriminierungsfrei anzusprechen und ihre Lebenswelt mit einzubeziehen.

Bild der Person: Prof’in Dr. med. Oertelt-Prigione, Medizinische Fakultät OWL
Prof’in Dr. med. Oertelt-Prigione sieht einen besonderen Bedarf darin, mehr über die Gesundheitsbedarfe von Menschen aus der LGBTIQ*-Community herauszufinden, um sie bestmöglich versorgen zu können.

In den vergangenen Jahren sind der Professorin zufolge hauptsächlich in Kanada und den USA Studien umgesetzt worden, die sich mit den Gesundheitsbedarfen von LGBTQI*-Menschen befassen. Auch in Deutschland gebe es entsprechende Ansätze. Allerdings sei das durch den Mangel an Daten manchmal gar nicht so einfach: „Die Betroffenengruppen sind teilweise relativ klein und oft auch sehr heterogen sind. Deswegen ist es aus medizinischer Sicht in solchen Fällen herausfordernd, adäquate Studien aufbauen zu können“, sagt Oertelt-Prigione. „Das sollte aber kein Ausschlusskriterium sein, sondern eher eine methodische Herausforderung, der man sich stellen kann.“ Die sexuelle Orientierung werde in Studien beispielsweise meist gar nicht abgefragt, um Menschen nicht zu stigmatisieren. „Auch wenn das gut gemeint ist, fehlt dadurch bislang ein Überblick zu besonderen Gesundheitsbedarfen, Chancen und Risiken von LGBTQI*-Menschen.“

Datenlage zu LGBTIQ*-Personen in der Bevölkerung verbessern

Lisa de Vries ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitglied der Arbeitsgruppe Empirische Sozialforschung mit dem Schwerpunkt quantitative Methoden von Professor Dr. Martin Kroh. Gemeinsam mit Kolleg*innen hat sie in einem Forschungsprojekt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, sozioökonomische Daten über LGBTQI*-Menschen erhoben.

Lisa de Vries beschäftigt sich mit den Karrierechancen von LGBTQI*-Menschen. „Ich schaue mir beispielsweise an, ob lesbische, schwule und bisexuelle Menschen häufiger oder seltener in höheren beruflichen Positionen mit Weisungsbefugnis arbeiten, ob sie in bestimmten Branchen beschäftigt sind und inwiefern sie mit ihrer Berufswahl versuchen, Diskriminierung zu meiden“, sagt sie. Die Ergebnisse, die sie und ihre Kolleg*innen erfasst haben, sind unter anderem in den jüngsten Familienbericht der Bundesregierung eingeflossen.

Bild der Person: Lisa de Vries, Fakultät für Soziologie
Lisa de Vries untersucht, wie LGBTQI*-Personen statistisch besser erfasst werden können.

Zudem arbeitet die Wissenschaftlerin mit ihren Kolleg*innen daran, Daten zu LGBTQI*-Personen zu erheben. „Obwohl sich die Datenlage bereits verbessert hat, fehlt es immer noch selbst an grundlegenden Daten zur LGBTQI*-Population wie beispielsweise dem Anteil von Trans*personen oder nicht-binären Personen an der deutschen Bevölkerung“, sagt sie. Oft gebe es bei der Abfrage von Daten Schwierigkeiten: Viele standardisierte Befragungen erfassten etwa das Geschlecht in den Kategorien männlich und weiblich. „So können Trans*personen und nicht-binäre Menschen in vielen Befragungen gar nicht abgebildet werden“, sagt de Vries. „Wir testen unterschiedliche Möglichkeiten, um Geschlecht und sexuelle Orientierung abzufragen.“

Queere Figuren in der Literatur sichtbar machen

Patricia Bollschweiler ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Sie ist außerdem assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Erfahrung. Konstitution und Transformation geschlechtlicher Existenzweisen“ der Universität Bielefeld.

Sind queere Figuren in der Literatur ein Phänomen des 21. Jahrhunderts oder gab es sie schon viel früher? „Als queer verstehen sich Menschen, die in ihrer geschlechtlichen Identität oder in ihrem Begehren nicht der heterosexuellen, binären Norm entsprechen. Wichtig ist dabei, dass der Begriff historisch und bis heute eine Selbstbezeichnung ist, die darum sehr offen ist und ein Identifikationsangebot für viele Menschen bereitstellt. Die These meines Projekts ist es, dass queere Identitäten in der Erzählliteratur schon lange existiert haben, bevor queer zu einem Begriff der Gender Studies, der Soziologie und auch der Literaturwissenschaft wurde – und die Erzähltexte damit wichtige Impulse für genau diese theoretischen Überlegungen liefert“, sagt Patricia Bollschweiler. Sie untersucht in ihrer Dissertation queere literarische Figuren thematisch und erzähltheoretisch.

Patricia Bollschweiler
Patricia Bollschweiler befasst sich damit, wie Figuren in der Literatur sichtbar gemacht werden, die jenseits heterosexueller und zweigeschlechtlicher Normen leben.

„Dabei geht es auch darum, die Vielfältigkeit von Geschlecht zu zeigen, die in der Literatur als einem Raum besonderer ästhetischer Freiheit zum einen sehr variabel ausgestaltet werden kann und sich zum anderen auch narratologisch, also in der Art und Weise, wie erzählt wird, nachvollziehen lässt“, sagt Bollschweiler. Wenn Queerness erzählt werde, führe das zu einer Verunsicherung und dazu, dass vermeintlich stabile Geschlechtervorstellungen brüchig würden.

In ihrer Arbeit will die Wissenschaftlerin so zeigen, wie Queerness in der Literatur auch narrativ hervorgebracht wird und welche erzählerischen Verfahren dabei zum Einsatz kommen. „Dabei spielen natürlich auch die historischen, politischen und gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen eine Rolle“, sagt sie. Aber: „Queerness ist keine Frage von Epoche, von Trend, von Nation und Nationalphilologie, sondern kann als ein Verfahren der Literatur verstanden werden und gehört somit mit ins Zentrum einer gendersensiblen Neulektüre von Literatur.“ Dafür analysiert sie eine Reihe von Erzähltexten aus verschiedenen Epochen und Sprachräumen, etwa von Honoré de Balzac, Virginia Woolf oder Sasha Marianna Salzmann. Eine ihrer Analysen stellt sie in der Onlinezeitschrift des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung vor.