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„Putin und Kyrill profitieren beidseitig von Legitimation“


Autor*in: Moritz Schmidt-Degenhard

Mit dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine Ende Februar begann ein Krieg mitten in Europa. In dem Konflikt spielen auch die orthodoxen Kirchen eine wichtige Rolle. Die Russisch-orthodoxe Kirche bemüht sich, Putins Krieg in der Ukraine ideologisch zu untermauern. Für die orthodoxen Kirchen in der Ukraine hingegen löst der Krieg eine neue Dynamik aus. Ein Gespräch zu diesen Entwicklungen mit dem Bielefelder Religionssoziologen Dr. Leif Seibert.


Das Oberhaupt der Russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., stellt sich hinter Putin: Er bezeichnete die Gegner der russischen Armee in der Ukraine als „Kräfte des Bösen“. Dabei nahm er unter anderem Bezug auf den liberalen Umgang mit Homosexuellen und sieht Russland in einem Kulturkampf gegen Dekadenz. Kyrill I. will unter anderem so den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigen. Wie sehr sind Putin und die Russisch-orthodoxe Kirche aufeinander angewiesen?

In der russisch-orthodoxen Theologie wird oft der Begriff „Symphonia“ bemüht. Gemeint ist damit der Anspruch eines harmonischen Zusammenspiels von kirchlicher und weltlicher Herrschaft. Natürlich lässt sich dieses aus der Antike stammende Konzept nicht problemlos auf moderne Beziehungen zwischen Staat und Kirche übertragen – doch Putin und Kyrill geben sich große Mühe.

Von der wechselseitigen Legitimation und Unterstützung profitieren beide Seiten. Konkrete Beispiele für die staatliche Unterstützung der Kirche sind etwa die Wiedereinführung des schulischen Religionsunterrichts, die Rückgabe von Kircheneigentum oder auch Anpassungen der russischen Verfassung. In dieser wird seit zwei Jahren der Glaube an Gott erwähnt, und der Staat hat sich zum Schutz der traditionellen Ehe verpflichtet. Gerade das letzte Beispiel deutet auf einen Diskurs um eine wertkonservative, zugleich kulturell-russische und christlich-orthodoxe Identität hin. In diesem Diskurs entfaltet das Zusammenspiel von Kirche und Kreml heute eine klar herrschaftsstabilisierende Wirkung.

Die angesprochene Predigt Kyrills ist dafür das beste Beispiel. Die Gay Pride Parade in Kiew wird darin als Beweis der Unterwerfung des ukrainischen Volks aufgefasst, als Loyalitätsbekundung zu modernen, liberalen Werten, die vom Westen aufgezwungen werden und denen die Ukrainer*innen leidend gegenüberstehen. In diesem Sinne ist es zwar einerseits bizarr, dass der Patriarch gegen Homosexuelle hetzt, während nebenan ein Krieg tobt. Andererseits verleiht er damit dem Motiv einer „Befreiung“ der traditionell-wertkonservativen „russischen Welt“ von fremden Einflüssen Nachdruck, mit dem auch Putin den Angriff auf die Ukraine rechtfertigt.

Begegnen sich Putin und Kyrill auf Augenhöhe?

Nein, gerade der Ukrainekrieg macht deutlich, wer beim Zusammenspiel den Ton angibt: der russische Präsident. In Putins Rhetorik haben religiöse Rechtfertigungen quasi jeden Schritt der Eskalation begleitet, seit er 2014 die Krim mit dem Jerusalemer Tempelberg verglich und damit den politischen Konflikt religiös überformte. Wenn man sich dagegen Kyrills Aussagen zu den kanonischen Territorien seiner Kirche ansieht, dann spricht daraus bis 2014 ein dezidiert transnationaler Anspruch, der eine Vereinheitlichung von kirchlichem und staatlichem Hoheitsgebiet überflüssig macht. Die Russisch-orthodoxe Kirche hat sich ab 2014 zwar sehr schnell hinter Putin gestellt, aber dazu war eben erst ein Kurswechsel nötig. Ich erwähne dieses Detail, weil es wichtig ist, damit man einem derzeit kursierenden Geschichtsrevisionismus nicht auf den Leim geht. Im propagandistischen Gebrauch werden die Ursachen einer politischen Ideologie über die Kirchengeschichte bis ins Mittelalter rückprojiziert, obwohl diese Ideologie selbst erst als Reaktion auf relativ aktuelle Sorgen und Nöte entstanden ist. Die Rückprojektion ist somit als ein Bestandteil der Ideologie zu betrachten.

„Gerade der Ukrainekrieg macht deutlich, wer beim Zusammenspiel zwischen Putin und Kyrill den Ton angibt: der russische Präsident.“

Dr. Leif Seibert

Orthodoxie in der Ukraine

In der Ukraine gibt es zwei orthodoxe Kirchen. Zum einen die Orthodoxe Kirche der Ukraine: Sie entstand 2018/19 durch die „Fusion“ der Ukrainisch-orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats und der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche. Mit ihrer Anerkennung durch Bartholomäus I., den Ökumenischen Patriarch von Konstantinopel, löste sie sich aus dem postsowjetischen Bezug und distanzierte sich von der Russisch-orthodoxen Kirche. Zum anderen gibt es die Ukrainisch-orthodoxe Kirche, die traditionell dem Moskauer Patriarchat der Russisch-orthodoxen Kirche zugeordnet ist und unter ihre Befugnis fällt.


Welche Dynamik entfaltet der Krieg für die beiden eigentlich rivalisierenden orthodoxen Kirchen in der Ukraine?

Es bewegt sich gerade eine ganze Menge, und ich erlaube mir vorab, etwas Werbung in eigener Sache zu machen: Am 18. Mai werden wir am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) eine Podiumsdiskussion zur religiösen Dimension des Ukrainekriegs veranstalten, bei der es natürlich insbesondere um dieses Thema gehen wird.

Nach dem Werbeblock komme ich zu Ihrer Frage, in der Sie recht treffend von „eigentlich rivalisierenden“ Kirchen sprechen, wobei ich zunächst beim „eigentlich“ ansetzen möchte. Denn eine Rivalität zwischen diesen Kirchen gab und gibt es auf jeden Fall. Auf theologischer Ebene erkennen sie einander formal nicht an. Virulent war und ist aber vor allem die politische Dimension: Der Prozess um die Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine lief zwar bereits einmal recht zaghaft in den 1990er Jahren an, ruhte dann aber bis die Unabhängigkeit der Kirchen in der Ukraine zu einer Frage der nationalen Sicherheit erhoben wurde. Spätestens seit 2016 ging es zuallererst um Außen- und Sicherheitspolitik. Politische Akteure waren in dieser Sache federführend, allen voran der damalige ukrainische Präsident Poroschenko. Und in welchem Kontext Poroschenko die kirchliche Unabhängigkeit sah, wurde schon durch seinen Wahlkampfslogan deutlich: „Armee! Sprache! Glaube!“

Natürlich brachte diese Politisierung der Orthodoxen Kirche der Ukraine den Vorwurf ein, sie ließe sich von antirussischen Nationalisten instrumentalisieren. Im Kontrast dazu wurde die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriachats zunehmend als verlängerter Arm Russlands wahrgenommen. Diese Zuspitzung auf politische Lager der „eigentlich rivalisierenden“ Kirchen – holzschnittartig und ohne Rücksicht auf die zum Teil gravierenden regionalen Unterschiede – wurde natürlich weder der internen Diversität noch dem religiösen Selbstverständnis dieser Akteure gerecht, und schon gar nicht der religiösen Praxis auf Gemeindeebene. Das zeigt sich nun auch gerade angesichts der jüngsten Entwicklungen.

Seit dem 24. Februar überschlagen sich nun die Ereignisse: Beide Kirchen haben den Krieg scharf verurteilt, Russland ausdrücklich als Aggressor benannt und sich eindeutig für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine ausgesprochen. Insbesondere die Zukunft der Ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats ist ungewiss, denn verständlicherweise sind deren Geistliche und Anhänger extrem enttäuscht von Patriarch Kyrills Haltung zum Krieg. Infolgedessen manifestiert sich da zurzeit ein Bruch mit der Russisch-orthodoxen Kirche. Gläubige, denen die Unterschiede zwischen den beiden Kirchen bislang nicht wichtig oder bewusst waren, wechseln aus Protest zur Orthodoxen Kirche der Ukraine. Geistliche haben aufgehört, Patriarch Kyrill im Gottesdienst zu gedenken oder fordern gar, den eigenen Patriarchen vor ein internationales Kirchentribunal zu stellen. Es ist schwer zu sagen, wie die Sache ausgeht. Zumal das auch davon abhängt, wann und wie der Krieg enden wird. Im Raum steht nun sogar eine Verschmelzung beider orthodoxer Kirchen. Wenn das geschähe, hätte paradoxerweise Putin erreicht, was Bartholomäus vermutlich ursprünglich beabsichtigte: eine einheitliche orthodoxe Nationalkirche in der Ukraine.

Welche Rolle spielt das Verhältnis des Papstes und der Römisch-katholischen Kirche zu der Russisch-orthodoxen Kirche?

Die Russisch-orthodoxe Kirche steht durch den Krieg sehr isoliert da, sowohl im Blick auf die Beziehungen zu anderen orthodoxen Kirchen als auch interkonfessionell und in der weiteren christlichen Ökumene. Das gilt auch für das Verhältnis zur Römisch-katholischen Kirche. Ich denke aber nicht, dass das für den Krieg, wie wir ihn heute sehen, sonderlich relevant ist, solange Kyrill sich nicht von den zahllosen Appellen beeindrucken lässt, die an ihn gerichtet werden.

Ganz allgemein muss man sagen, dass die Handlungsoptionen religiöser Akteure in der jetzigen Konfliktphase – also während des Kriegs – stark eingeschränkt sind. Auch Kirchen sind ja zivile Akteure, keine militärischen. Solange das Gewaltniveau derart hoch ist, konzentrieren Kirchen und Religionsgemeinschaften sich daher auf dringend benötigte Maßnahmen zur karitativen Nothilfe.

Welchen Beitrag kann die Religionssoziologie in Bezug auf den Krieg in der Ukraine leisten?

Max Weber beschrieb den Gegenstand der Religionssoziologie als die „äußerliche und grobe Seite“ der Religionen, und zwar im Unterschied zu dem, was „dem seiner Religion anhänglichen Theologen daran das Wertvolle ist“. Wir Religionssoziologen haben diesen Arbeitsauftrag sehr ernst genommen, ganz besonders im Hinblick auf die Grobheit. Daher gibt es gerade zum Zusammenhang von Religion und Konflikt ein riesiges und sehr heterogenes Forschungsfeld. Ein Überblick wäre an dieser Stelle zu abstrakt und daher kaum hilfreich.

Darum gebe ich stattdessen lieber ein konkretes Beispiel für religionssoziologische Konfliktforschung, nämlich unser Projekt zu religiösem Peace Building in Bosnien-Herzegowina. Es ging um die Entwicklung von soziologischen Modellen zur Messung und Analyse von Eigenschaften religiöser Organisationen, die diese bei Bemühungen um Friedenskonsolidierung zu besonders leistungsfähigen sozialen Multiplikatoren machen. Gerade in der internationalen Zusammenarbeit werden in Krisenregionen immer wieder solche Kooperationspartner gesucht. Dementsprechend gab es aus dieser Richtung auch einiges Interesse an dem Projekt und den Resultaten, beispielsweise von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK). Das zeigt die praktische Relevanz von religionssoziologischen Erkenntnissen. Allerdings, das muss man klar sagen, ist dieses Beispiel relevant für ziviles Peace Building in einer Phase der Friedenskonsolidierung nach dem Krieg. Eine Phase, von der die Ukraine heute leider noch weit entfernt ist.

Zur Person

Religionssoziologe Dr. Leif Seibert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Systematische Theologie und Religionssoziologie an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Theologie. Er forscht am Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society (CIRRuS).

Seiberts Themen mit Blick auf den Ukraine-Krieg: Konkurrenzbeziehung zwischen Russisch-Orthodoxer Kirche und der Orthodoxen Kirche der Ukraine hinsichtlich Kriegsrechtfertigung der Putin-Regierung; internationale Beziehungen der Russisch-Orthodoxen Kirche zu christlichen Fundamentalisten in den USA und Europa.


Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: