Verlauf ukrainische Flagge vor dem Gebäude X.

„Ein Atomkrieg ist um jeden Preis zu vermeiden“


Autor*in: Moritz Schmidt-Degenhard

Seit fünf Wochen herrscht Krieg in der Ukraine, in Europa. Die internationalen Staatengemeinschaften reagieren mit Sanktionen und Verhandlungsangeboten. Stehen sie in der moralischen Pflicht, im Ukrainekrieg militärisch zu intervenieren? Die Philosophin Dr. Véronique Zanetti ist Professorin für Politische Philosophie an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie. Sie forscht zum Konzept der Schutzverantwortung der Vereinten Nationen, zur Rechtfertigung militärischer Gewalt und den daraus folgenden moralischen Rechten und Pflichten von Staaten. Véronique Zanetti im Interview über die Frage nach humanitären Interventionen im Ukrainekrieg und über die Pflichten internationaler Staatengemeinschaften.


Welchen Beitrag kann die politische Philosophie in Bezug auf den Krieg in der Ukraine leisten?

Der Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, ist ein Angriffskrieg. Aus der Sicht der politischen Philosophie kommt es darauf an, die Begriffe und die damit verbundenen normativen Dimensionen zu klären. In vorliegenden Fall geht es vor allem um Krieg und Frieden. Die Theorie des gerechten Kriegs hat eine lange Tradition. Sie fragt: Was sind gerechte Gründe für einen Krieg? Und wann ist ein Krieg gerecht? Darauf gab es unterschiedliche Antworten und miteinander konkurrierende Auslegungen.

Zu analysieren sind weiterhin die Erwartungen an Friedensmöglichkeiten, die im Raum stehen: Finden wir uns mit einem eher minimalen Konzept der Abwesenheit von Gewalt ab, ganz im Sinne der Theorien Thomas Hobbes? Oder streben wir eine anspruchsvolle Konzeption des Friedens nach Immanuel Kant an, in der die globale Herrschaft des Rechts und eine gerechte politische und soziale Ordnung gelten?

Die politische Philosophie muss außerdem noch die Frage der Unabhängigkeit der von Separatist*innen kontrollierten Gebiete Donezk und Luhansk diskutieren. Dahinter steht die Frage nach der Rechtfertigung von Abspaltungsbestrebungen. Diese Probleme, die eng mit dem Krieg in der Ukraine verknüpft sind, sind Gegenstand einer begrifflichen und normativen Analyse.

Sie setzen sich mit dem Begriff der humanitären Intervention auseinander. Was macht das Konzept aus Ihrer Sicht bedeutsam?

Man kann nicht über humanitäre Intervention sprechen, ohne auf das Oxymoron zu stoßen, das in dem Ausdruck enthalten ist. Die beiden Begriffe widersprechen sich: Eine militärische Intervention wird als humanitär bezeichnet, wenn sie ihre Legitimität daraus bezieht, dass sie um der Rechte von Personen willen erfolgt, denen zu Hilfe gekommen werden soll und die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Kriege bleiben indessen ein blutiges Geschäft, das nicht ohne das Töten von Streitkräften und von Unschuldigen im Interventionsgebiet abgeht. Auch intervenierende Streitkräfte werden für Ziele getötet, die nicht direkt die ihren sind.
 
Das Oxymoron deckt ein moralisches Dilemma auf: Menschen in Not muss geholfen werden. Diese Hilfe wird jedoch – insofern sie mit militärischen Mitteln geschieht – unweigerlich mit dem Töten von Zivilisten erkauft. Das Dilemma, so könnte man es charakterisieren, entsteht aus einer Kollision von Pflichten: der Pflicht, Menschen in Not zu helfen, die sich nicht selbst helfen können. Und der Pflicht, Unschuldigen keinen Schaden zuzufügen. Deshalb ist die Diskussion extrem kontrovers, ob humanitäre Interventionen gerecht, ja sogar eine Pflicht sind, oder nicht.

Sehen Sie die Europäische Union (EU) oder andere internationale Staatengemeinschaften – auch angesichts mutmaßlicher Kriegsverbrechen wie in Butscha – in der Pflicht, zum Schutz der Menschenrechte militärisch einzugreifen?

Das Gewohnheitsrecht erkennt an, dass eine militärische Intervention dann gerechtfertigt ist, wenn es um die Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen geht. In diesem Sinne äußert sich der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebene Bericht „The Responsibility to Protect“ von 2001, der auf ihrem Weltgipfel 2005 vorgelegt wurde. Das Dokument verankert eine Schutzverantwortung der Staaten in Fällen von Völkermord, ethnischer Säuberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Philosophisch gründet die Annahme, es gebe ein Recht zur humanitären Intervention, in den Ideen universeller Grundrechte einerseits und der Pflicht auf Nothilfe andererseits. In Anbetracht der Kriegsverbrechen, die in der Ukraine verübt werden, könnte man also davon ausgehen, dass die internationale Gemeinschaft in der Pflicht steht, militärisch einzugreifen, um die ukrainische Bevölkerung zu schützen. Allerdings sind militärische Interventionen Kriegshandlungen, die unvermeidlich zu weiterem Leid und Tod führen. Hinzu kommt, dass ein kriegerisches Eingreifen in diesem ungerechten Krieg die Barriere eines mit Atomwaffen geführten Konflikts niederreißen könnte: ein Übel, das um jeden Preis zu vermeiden ist. Moralischen Betrachtungen stehen Klugheits-Überlegungen gegenüber, und sie müssen unter anderem auf Kriterien des gerechten Kriegs wie Verhältnismäßigkeit, Aussichten auf Erfolg sowie des Ultima-Ratio-Prinzips kritisch überprüft werden.

Ich denke nicht, dass die EU oder die Nato eingreifen sollte. Verhandlungsangebote einerseits und Sanktionen andererseits scheinen mir die einzigen Instrumente zu sein, die derzeit zur Verfügung stehen. Mit Waffenlieferungen wird die Logik des Kriegs verstärkt, was die mit dieser Lieferung verbundene moralische Einstellung stark ins Zwielicht rückt. Wenn allerdings die Bevölkerung eines Staates und ihre Regierung – wie im Fall der Ukraine – den deutlichen Willen zeigen, gegen eine Invasion militärisch Widerstand zu  leisten und wenn sie außerdem anderen Staaten ihren Bedarf nach militärischer Unterstützung kommunizieren, sehe ich kaum überzeugende Argumente, ihnen eine entsprechende Unterstützung zu verweigern.

© Universität Bielefeld

Der Ausdruck humanitäre Intervention deckt ein moralisches Dilemma auf: Menschen in Not muss geholfen werden. Diese Hilfe wird jedoch – insofern sie mit militärischen Mitteln geschieht – unweigerlich mit dem Töten von Zivilisten erkauft. 

Professorin Dr. Véronique Zanetti

Putin versucht mit aller Macht, seine Ziele mit dem Angriffskrieg durchzusetzen. Gilt am Ende doch das Recht des Stärkeren?

Die fast geschlossene Reaktion der UNO-Staaten und die einheitliche Haltung der Europäischen Union gegen Putin deuten eher darauf hin, dass die Weltgemeinschaft sich nicht mit dem Anspruch zufriedengibt, der Mächtigere könne seine Rechtsverachtung einseitig durchsetzen.

Zur Person

Die Philosophin Dr. Véronique Zanetti ist Professorin für Politische Philosophie an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie. Sie ist Mitglied des Direktoriums des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld und geschäftsführende Direktorin des ZiF. In einem Aufsatz in dem Buch „Menschenrechte und Menschenwürde“ befasste sich schon 2019 mit dem Thema „Humanitäre Interventionen – ein zweischneidiges Schwert. Kann ein Krieg gerecht sein?“


Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: