Physikerin mit fundamentalen Fragen


Autor*in: Linda Thomßen

Gabi Schierning ist Expertin für Strom- und Wärmefluss in Materialien. Der Europäische Forschungsrat bezeichnet ihre Arbeit als grundlagenorientierte, visionäre Forschung und fördert sie mit zwei Millionen Euro. Seit dem Wintersemester 2020/2021 ist Schierning als Professorin für Experimentalphysik an der Fakultät für Physik tätig.

Wenn Gabi Schierning etwas nicht verstanden hat, dann lässt sie die Frage nach der Lösung nicht los. Auch nach einem Arbeitstag als Professorin für Experimentalphysik geht es im Kopf weiter. „Ich rede vor mich hin und meine Kinder fragen mich, ob ich gerade über meine Forschung nachdenke – meistens ist das dann so“, erzählt Schierning. Auch Themen aus dem Studium arbeitet die Anfang 40-Jährige heute noch ab. „Meine Fragen trage ich zum Teil über Jahre mit mir herum. Ich finde es faszinierend, herauszufinden, wie etwas funktioniert.“

Professorin Dr. Schierning forscht zur Thermoelektrik, dem „kleinen Bruder der Photovoltaik“, wie sie sagt. „Ich untersuche, wie genau thermoelektrische Materialien nutzbare elektrische Energie generieren.“ In der Photovoltaik wird Licht zu elektrischer Energie gewandelt, in der Thermoelektrik Wärme zu elektrischer Energie und elektrische Energie zu Kühlung. Die Materialwissenschaftlerin betreibt Grundlagenforschung in ihrem Gebiet. „Wir wissen ziemlich gut wie eine Solarzelle funktioniert, da gibt es nicht mehr allzu viel Neues herauszufinden – im Bereich der Thermoelektrik sieht es ganz anders aus“, sagt Schierning. „In den kommenden fünf Jahren können sich noch so viele neue Fragen in meinem Projekt ergeben.“

Ende 2019 wurde Schierning vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit dem Consolidator Grant ausgezeichnet. Auf die Förderung vom ERC hat die Wissenschaftlerin mehrere Jahre hingearbeitet: „2016 habe ich mich das erste Mal mit dem Thema für den ERC befasst. Die konzeptionelle Arbeit für den Antrag war anstrengend und ambitioniert – die Bewilligung des ERC Grant ein riesiger Erfolg.“ Direkt nach der Einwerbung des Grants kam der Ruf an die Universität Bielefeld. Gefördert mit zwei Millionen Euro geht Schierning nun das große Projekt an. Das Projekt heißt MATTER: MAcroscopic quantum Transport maTERials by nanoparticle processing (Makroskopische Quantentransportmaterialien durch Nanopartikelverarbeitung). Schierning und ihr Team befassen sich mit der Frage: Wie müssen Oberflächen von thermoelektrischen Materialen beschaffen sein, um effizient elektrischen Strom zu transportieren?

Besondere Pfade für den elektrischen Strom an Oberflächen

Thermoelektrische Materialien bestehen aus schweren Elementen, die durch einen Temperaturunterschied zwischen den beiden Enden des Materials elektrischen Strom erzeugen. „Die elektrische Energie, die hier entsteht, ist nicht genug, als dass man damit ein Kraftwerk betreiben könnte, aber für kleine Sensoren optimal. Auch zur Kühlung von Computerchips beispielsweise kann Thermoelektrik eingesetzt werden. Dabei können die Temperaturen präzise geregelt werden“, so Schierning. Für ihre Experimente nutzt sie zum Beispiel Bismuth-Tellurid und Antimon-Tellurid.

Prof’in Dr. Gabi Schierning untersucht in einer neuen Studie, wie sich thermoelektrische Bauelemente fertigen lassen, die ohne das seltene Element Tellur auskommen, Bild der Person
Prof’in Dr. Gabi Schierning. Foto: Universität Bielefeld

Was die Forscherin beschäftigt, ist, dass diese thermoelektrischen Materialen häufig auch topologische Isolatoren sind. Topologische Isolatoren leiten Strom nicht im Inneren, sondern nur am Rand des Materials, dort aber dafür besonders gut. Der Vorteil: Hier ist der elektrische Widerstand besonders niedrig. Elektronen können sich in sogenannten Oberflächentransportkanälen gut bewegen können und werden nicht gestreut. In Schiernings Projekt sollen thermoelektrische Materialien mit solchen Oberflächentransportkanälen hergestellt werden.

Dafür erhält die Physikerin Nanopartikel von einem Partner aus der Chemie. Nanopartikel sind winzige Teilchen, die sich durch ein hohes Verhältnis von Oberfläche zu Volumen auszeichnen. Auf diese Nanopartikel-Verbünde setzt sie elektrische Kontakte. Handgriffe, die Schierning mittlerweile perfektioniert hat. Für sie faszinierend sind die Fragen, die danach kommen: Welchen Beitrag leisten die Oberflächentransportkanäle für die Stromerzeugung? Wie kann dieser Beitrag gemessen und weiter optimiert werden?

Gespür für praktischen Nutzen von Grundlagenforschung

In der Experimentalphysik der Universität ist die Thermoelektrik ein neuer Schwerpunkt. Weitere Arbeitsgruppen forschen beispielsweise zu Magnetismus. „Wir können viel voneinander lernen. Ich frage mich immer, was die Befunde von Kolleg*innen damit zu tun haben, was ich mache. Auf diese Weise ergeben sich immer neue Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit“, sagt Schierning. Brücken in andere Richtungen zu bauen, sieht sie in ihrem Forschungsbereich als verpflichtend: „Es nützt niemandem etwas, im Elfenbeinturm zu forschen. Wir müssen unsere Ergebnisse hinaustragen in die Welt, Schnittstellen erkennen und ansprechbar bleiben.“ Auch wenn Schierning heute in der Grundlagenforschung tätig ist, bewahrt sie sich den praktischen Ansatz: „Ich würde es schwierig finden, an einer exotischen Materialzusammensetzung zu forschen, die für gar keine Anwendung in Frage kommt.“

Ursprünglich wollte Gabi Schierning nach ihrem Studium der Materialwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg als Ingenieurin bei Siemens arbeiten. Schnell wurde ihr aber klar, dass sie weiter forschen möchte. Nach der Promotion folgte ihr akademischer Weg durchs Land: Sechs Jahre lang leitete sie eine Nachwuchsgruppe an der Universität Duisburg-Essen, danach fünf Jahre lang eine Forschungsabteilung am Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden. „Eine Forschungskarriere lässt sich nicht planen und ist häufig mit vielen Arbeitsortwechseln verbunden. Mein Glück ist, dass ich immer Spaß an meiner Arbeit habe. Jetzt freue ich mich, an der Universität Bielefeld angekommen zu sein“, erzählt Schierning.

Seit dem Beginn ihrer Karriere hat sich die Wissenschaftlerin auch immer gerne Wettbewerben wie jetzt dem ERC Grant gestellt. „Ein Antrag ist nie vertane Zeit. Dazu gehört, die eigenen Gedanken extrem zu sortieren und bedeutsame Fragestellungen ausarbeiten. Mal bin ich als Forschende*r vorne, mal hinten. Wenn es einmal nicht geklappt hat, sag ich mir immer: Mach weiter, mach es besser.“

Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus „BI.research“, dem Forschungsmagazin der Universität Bielefeld. Die neue Ausgabe des Magazins erscheint in Kürze.